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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Die Oberamtmännin ging hinaus, sich schnell mit Guste zu besprechen, trat flüchtig bei den Kindern ein, ihnen zärtliche Gute Nacht-Küsse zu geben, und kam mit förmlich jugendlich roten Backen wieder zurück.

Bald klang die lächelnde Melodie des ersten Satzes eines Haydnschen Trios durch das Zimmer. Der Abend wurde noch sehr behaglich. Die gebeugten und geängsteten Geister richteten sich mit besonderer Lebhaftigkeit wieder auf, und nachher beim Grog erzählten der Oberamtmann und der Organist Geschichten aus alten Zeiten, wo es in Mühlau noch kein Gas und keine Garnison gab.

Am andern Tag sprach es sich in ganz Mühlau herum, daß Frau von Zeuthern an der Malaria erkrankt sei. Bei Küps im Laden wurde erzählt, daß sie nur noch wie ein Gespenst aussehen solle und im Krankenwagen zurücktransportiert werde, weil sie in den Armen ihrer Eltern sterben wolle. Man besprach bei dieser Gelegenheit noch gleich einmal wieder den Tod des Herrn von Zeuthern im Duell und daß Herr von Körlegg ausgerechnet nach Mühlau versetzt worden war. Auf einem Damenkaffee bei der Bürgermeisterin war davon die Rede, daß Malaria eine schreckliche, mit Ausschlag verbundene Krankheit sei, die durch Mangel an Salz entstehe. Eine heftige Meinungsverschiedenheit entbrannte zwischen den Damen. Frau Rechtsanwalt Meiners sagte, daß das eine ganz andere Krankheit sei, deren Namen sie nur im Augenblick nicht nennen könne, obgleich er ihr auf der Zunge liege – es sei auch so ein Wort mit „al“ darin. Der Friede konnte nur durch den neuen Brockhaus des Herrn Bürgermeisters wieder hergestellt werden, aus welchem die Bürgermeisterin laut den Artikel Malaria vorlas. Die Damen, welche dieser Krankheit so schrecklichen Ausschlag zugesprochen, waren beinahe enttäuscht. Man sprach über allerlei Fieber weiter, kam dadurch auf das Nervenfieber, an dem Frau von Müller gestorben war, und weiter auf die Verlobung des Fräuleins von Müller mit dem Leutnant Lauenstein, und war gerade bei den Schulden Lauensteins angelangt, als Frau Rechtsanwalt Meiners auf einmal schrie: „Ich hab’s, ich hab’s: Pellagra! Pellagra!“ –

Auch im Kasino wurde davon gesprochen, es war am Abend. Ihrer drei saßen um den Tisch unter der Gaslampe und spielten Skat. In der Ecke um den runden Tisch rekelten mehrere Herren und unterhielten sich schläfrig. Das ganze Zimmer war mit blauem Dampf angefüllt. Es war sehr heiß. Eine Ordonnanz ging ab und zu und brachte Bier.

Achim von Körlegg war unter den Skatspielern.

Hallendorf kam erst gegen 10 Uhr. Er hatte in der Stadt irgendwo Abendbrot gegessen und stand nun hinter Achim, seine langen Beine in gespreizter Stellung, die Hände in den Hosentaschen. Er hatte in solcher Stellung eine unerträgliche Art, ohne sich vom Fleck zu bewegen, sich regelmäßig zu wiegen, vom Hacken zur Zehe, von der Zehe zum Hacken.

„Nett gewesen?“ fragte einer vom Tisch her.

„Nee. Langweilig.“ Er guckte Achim in die Karten.

„Was Neues?“ fragte wieder jemand.

„Nee. Meist wurde von der Geschichte mit Frau von Zeuthern gesprochen,“ sagte Hallendorf.

„Was für ’ne Geschichte?!“ rief Bläser.

„Herrjeses – hab’n Sie das denn heut’ mittag nich gehört?“ fragte Hallendorf. „Ach nee – Sie und Körlegg war’n schon weg. Natürlich ist die Hälfte der Räubergeschichten wieder mal glatt gelogen. Ich sprach Sebold vorhin, der weiß es genau.“

Achim gab gerade Karten herum. Er hörte jedes Wort.

Ihm war, als müßten ihm alle Kameraden ansehen, daß er die Farbe wechselte. Und seine Hände wurden ihm kalt.

Zum Glück wollten seine Mitspieler auch hören, was Sebold denn erzählt habe. Das Interesse für die „gnädige Frau“ war im Kasino beinahe Mode.

„Sagen Sie doch erst mal: was für ’ne Geschichte denn überhaupt?“ fragte Bläser ungeduldig. „Das muß neuesten Datums sein, ich war doch vorgestern bei Deuben auf Heinsdorf, und der sagte keinen Ton.“

„Die gnädige Frau sind unterwegs krank geworden. Malaria. Gleich den zweiten oder dritten Tag in Rom. Es soll schon ganz vorbei sein, bloß rasend nervös ist sie geblieben, beinahe melancholisch, sagte Sebold. Der alte Onkel, mit dem sie reist, hat es so lange verschwiegen. Aber nun mußte er damit ’rausrücken, weil sie wiederkommen. Andere Woche wohl. Und der alte Herr will sie absolut mit nach Berlin haben. Es scheint, der hat Geld wie Heu. Aber Oberamtmanns werden die Tochter nicht hergeben wollen. Sehr verständig! Die gnädige Frau sollte nur diesen Winter tüchtig tanzen und dann wieder heiraten. Das wäre das beste. Da vergehen den jungen Frauen die melancholischen Flausen.“

Ein paar Kameraden lachten und neckten Hallendorf, ob er sich noch immer einbildete, der rechte Arzt für die schöne Frau zu sein.

Dann sprach man weiter und spielte man weiter.

Achim war sich bewußt, mit keinem Wimpernzucken besondere Teilnahme verraten zu dürfen. Er wußte wohl, unter den Kameraden ging ein leises, leises Gerücht, daß er im Sommer einige Male mit Sabine gesehen worden sei. Er wußte auch, von Hallendorf selbst, daß man es so gedeutet: er, Körlegg, habe es sehr schwer genommen, daß durch ihn ein Mann gefallen war, der Weib und Kind hinterließ; er habe das Bedürfnis gehabt, sich zu vergewissern, daß man ihm nicht fluche. Und so zart war da wieder einmal die Kameradschaft, daß niemand daran rührte.

Die Wahrheit ahnte aber keiner!

So spielte er denn seinen Skat, nicht sonderlich schlechter als sonst, und sprach, nicht sonderlich weniger oder häufiger als sonst.

Aber als er allein heimgehen konnte, atmete er auf. Eine kalte, trockene Novembernacht umfing ihn und kühlte ihm das Gesicht.

Malaria! Er wußte, daß das nur ein Wort war. Er begriff, daß der alte Herr Sabinens Eltern etwas hatte hinwerfen wollen, daran sie sich halten konnten mit ihren Fragen und Gedanken. Leute, die wohnen und reisen und leben wie der alte Herr und die beiden Damen, bekommen nicht die Malaria. In den ersten Oktobertagen, gleich in Rom, hatte sie die Krankheit bekommen? Nein, da hatte sie seinen Brief bekommen!

Ob wohl der alte Mann mit der zarten, müden, leidvollen Seele nun alles wußte? Ob er mit seiner Fürsorge Sabine beschützte?

Als er in sein Zimmer trat, machte er Licht und holte, nach langer Zeit zum erstenmal wieder, Sabinens Bild heraus.

Er betrachtete es lange, tiefe Wehmut im Herzen, aber doch mit Ruhe.

Wie schön sie war!

Ob sie ihn wohl noch liebte? Oder haßte? Bei so leidenschaftlichen Frauen steht die Kraft zu beidem verhängnisvoll nahe bei einander.

Er durfte und er wollte nicht darüber grübeln. Es war zu Ende zwischen ihr und ihm – für immer.

Selbst das Mitleid und die Sorge durfte das leidenschaftliche Verlangen nach dem schönen Weibe nicht wieder auferwecken.

Aber der heiße Wunsch stieg in ihm auf, daß sie alles bald überwinden möge und sich in neuer Freudigkeit dem Leben zuwende. Und – dann seiner still gedenken möchte. Den wollte er nicht aufgeben – den kleinen verborgenen Platz in ihrem Gedächtnis! Denn auch er, er würde nie jene heißen Tage voll Verlangen und Wonne vergessen, jene Tage von Venedig. – –

Ihm war, als könne das Bild ihn verstehen. „Nicht wahr, Sabine,“ sagten seine Gedanken, „du wirst eines Tages wunschlos und in Milde meiner gedenken?“

Die Augen wurden ihm naß. Und er verschloß das Bild. Als er den Schlüssel abzog, war ihm, als habe er ein Begräbnis gefeiert, in stiller Einsamkeit der Nacht. – – –




Ob wohl Onkel Fritz alles wußte? Das war die Frage, die auch Sabine sich manchmal vorlegte, wenn sie sich aus ihrer müden Zerbrochenheit gewaltsam aufraffte, um für alle

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0490.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2021)