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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Nr. 50.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Weihnachten.

0Das Christkind fliegt von Haus zu Haus;
0Da flammt’s von tausend Weihnachtsbäumen!
0Ein Leuchten flog ihm schon voraus
0In all den sel’gen Kinderträumen.
Wie jauchtzt die Schar, wenn der entzückte Blick
Erfüllten Wünschen überall begegnet!
Heut’ giebt es nur ein segnendes Geschick –
O Weihnacht, Fest der Kindheit, sei gesegnet!

0Und dort – ein einsam’ Lichtlein strahlt
0Hell in der Armut kahlem Zimmer;
0Ein schüchtern dürft’ges Bäumchen prahlt
0Mit diesem ungewohnten Schimmer.
Das ist kein Irrlicht, wie’s in nächt’gem Tanz
Auf toter Heide das Gezweig umflirrte;
Hier preist ein jubelnd Kind den Zauberglanz
Der in die kleine Hütte sich verirrte.

0Und in die hellen Fenster starrt
0Ein Wand’rer von den öden Gassen.
0Die Freude hat er längst verscharrt,
0Die Liebe hat ihn längst verlassen.
Und sternenlos ist ihm die Nacht des Herrn,
Und wünschelos muß er dem Glück entsagen;
Und schlägt für ihn kein Herz mehr nah und fern,
Wozu soll länger noch das seine schlagen?

0 Beglückter der verlor’ne Sohn –
0 Er kehrt zum heimatlichen Herde;
0 Einst aus dem Vaterhaus entflohn,
0 Durchzog er ruhelos die Erde.
Ein Friedensfest, ein Fest voll Lust und Schmerz!
Daß Keiner der bereuten Schuld gedenke!
Vergebung unter Thränen – Herz an Herz,
Das ist das schönste aller Christgeschenke.

0 Wehmütig ruht der Lichter Glanz
0 Dort auf dem Haupt der beiden Alten,
0 Auf ihrer Haare Silberkranz,
0 Auf den verwitterten Gestalten.
Es ist ein Fest nur der Erinnerung,
Sie schauen träumend in das Licht der Kerzen.
Viel schwand dahin, doch blieb die Liebe jung
Und sel’ge Weihnacht tragen sie im Herzen.

0 Du, Christkind, magst im Siegeslauf
0 Dich nicht so rasch von uns entfernen;
0 Noch einen Christbaum baue auf,
0 Der sich erhellt bis zu den Sternen!
Zur ganzen Menschheit niederstrahlen mag
Der Segen, den du heute uns beschieden;
Die heil’ge Nacht, sie werde heil’ger Tag
Ein ew’ger Weihetag voll Glück und Frieden!
 Rudolf von Gottschall.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 821. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_821.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2023)