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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Nr. 31.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.
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Einsam.
Roman von O. Verbeck.
1.

Heinrich Günther horchte an seiner Stimmgabel; er ließ sie dann wieder sinken und schaute über die Brüstung der Orgelempore in die mattbeleuchtete Kirche hinunter. Sie war nur mäßig besucht, immerhin aber viel stärker als vor Beginn der musikalischen Verbrämung des Abendgottesdienstes. Pastor Erdmann hatte recht gehabt. – „Singt sie mir herein, Güntherchen“, hatte er gesagt, „singt sie mir in die Stimmung. Haben sie den Nachklang von so etwas Feinem, Edlem im Ohr, dann hören sie mir nachher besser zu. So eine Motette nach dem Muster der alten Thomasschule in Leipzig, das war schon lange mein Traum. Studiert habt ihr ja genug im stillen. Nun heraus mit dem gesungenen Gebet!“

Da waren sie denn auch heute wieder, nur ihrer zwanzig, ein kleiner, bescheidener Sängerchor, aber lauter gute, feingeschulte Stimmen, lauter musikalisch andächtige Herzen. Und drunten am Altar stand der Pastor, noch den Rücken hergewandt und blätterte in seinem Buch.

Jetzt breitete er es auseinander und drehte sich langsam um.

Günther schlug sacht mit der Stimmgabel an die Säule, neben der er stand, und stieg dann auf den hohen, breiten Schemel, seinen Dirigentenplatz – zu einem regelrechten Pult hatten sie es noch nicht gebracht.

„Mmmmm!“ summte er leise, etwas vorgebeugt, seiner aufmerksam lauschenden kleinen Schar den Grundton zu. Wie ein Hauch kam es vierstimmig mit dem Anfangsaccord zurück.

Günther nickte zufrieden und hob den Taktstock.

„Kommet! Kommet! Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid – ich will euch erquicken!“

Wie ein leuchtender Strom von Schönheit schwammen die Töne in die stumm lauschende Kirche hinein. Eine leise Bewegung, wie von tiefern Atemzügen, ging drunten durch die Zuhörer. So kräuselt der linde Hauch des Frühlingsabendwindes die ruhsame Wasserfläche. Gleichgültige Augen öffneten sich weit, schwermütig blickende füllten sich mit Thränen; streng geschlossene Lippen wurden weich, müd’ hängende Schultern richteten sich auf.

„Kommet! Kommet! Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid – ich will euch erquicken!“

Der letzte Hauch des trostvollen Rufes war verklungen, zart und fein, mit den sanftesten Registern nahm der Organist den Schlußaccord auf, um von ihm zu dem allgemeinen Gesangbuchslied hinüberzuleiten.

An der Quelle.
Nach dem Gemälde von Marie Nestler-Laux.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 517. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_517.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)