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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Himmel und Hölle!“ riefen zwei, drei Stimmen zugleich.

„So ist’s, liebwerte Genossen! Die Zentgrafen und Malefikantenrichter stehen ja überall unter dem starken Schutz ihrer Landesherren und erachten sich für souverän. Die pfeifen aufs Reich! Und um Kniffe zur Rechtfertigung ihres Verfahrens, falls überhaupt sowas verlangt wird, sind die Schufte nicht sehr verlegen. Wär’ ja auch schade, wenn’s ihnen quer ginge.“

„Das ist freilich ein trübseliger Nachsatz zu meinem Vordersatz,“ meinte Herr Theodor Welcker.

Der Hauptmann lachte. „Fürwahr, ein mordstrübseliger! Und nun hat gar, wie Ihr vermeldet, der geistige Urheber dieses Mandats nach kurzem Walten das Zeitliche gesegnet. Da wird’s mit ähnlichen, verheißungsvollen Symptomen wohl gute Wege haben. Gotts Donner, ich sag’ Euch, mir zuckt immer wieder das Schwert in der Scheide!“

Jetzt erhob sich ein stiller, unscheinbarer Geselle, der bis dahin kaum noch geredet hatte, Kunz Noll, Mitglied der ehrsamen Reißer- und Malerzunft.

„Darf ich …?“ wandte er sich blitzenden Auges an Woldemar Eimbeck, der die Verhandlungen bis dahin geleitet hatte.

„Kunz Noll hat das Wort! Das ist ja ein seltenes Ereignis! Liebwerte Genossen, ich bitt’ euch: Silentium für unseren weltklugen Schweiger!“

Alles verstummte. Der Maler und Zeichner mit dem fahlen Gesicht und den spitz hervorstehenden Backenknochen war von jeher bekannt dafür, daß er nur wenig sprach, aber fast immer Gescheites und Selbständiges.

„Ihr Herren,“ begann Kunz Noll, „ich habe erst abgewartet, bis ihr mit euren Beratungen glücklich zu Ende, kamt. Das lag uns am nächsten. Was ich jetzt mitteilen will, bezieht sich auf eine fernere Zukunft. Es ist ein bloßer Gedanke, ein vielleicht seltsamer Einfall. Mir allerdings erscheint er nicht unzweckmäßig.“

Er hielt einen Augenblick inne.

„Sprecht!“ klang es von allen Seiten.

„Sofort. Erst aber möcht’ ich eine Frage vorlegen. Seid ihr mit mir überzeugt, daß es schwieriger ist, gegen den Landgrafen die Befreiung zu unternehmen als mit dem Landgrafen?“

„Gewiß! Ohne Zweifel! Das versteht sich von selbst. Aber was soll, das?“

„Ihr werdet das gleich hören. Ich bitte euch nur, weist meine Idee nicht ungestüm von der Hand, falls sie im ersten Augenblick euch zu tollkühn erscheint. Die Rebellion in den Straßen von Glaustädt ist auch kein Kinderspiel und führt möglicherweise zu Schlimmerem. Besser dünkt mich ein mutiger Griff in den Kern als das Benagen der Peripherie.“

„Was meint Ihr damit? Ihr sprecht ja in Rätseln!“

„Wir müssen den Landgrafen von seinen elenden Ratgebern befreien und ihm persönlich den vollsten Einblick in das Getreibe des Tribunals verschaffen. Nötigenfalls mit Gewalt. Der Landgraf ist von Natur edel und gutherzig. Nur die Ruchlosigkeit der andern bethört ihn. Einmal zerrissen, wird der Schleier der Bosheit ihn nicht wieder einhüllen. Aber das Wie? ruft ihr voll Ungeduld. Ich bin eben daran, euch dies Wie auseinanderzusetzen. Laßt mich nur ausreden!“

Silentium für den Reißer und Maler!“ rief Doktor Ambrosius, dem die sichere, thatkräftige Art des Mannes gar wohl gefiel.

„Ihr wißt, Freunde,“ hub der Künstler wiederum an, während sein fahles Gesicht über den spitz hervorstehenden Backenknochen sich rötete, „ihr wißt, daß der Landgraf Otto alljährlich zu Anfang Oktober in den Stauffheimer Waldungen Jagd hält, und zwar mit ganz kleinem Gefolge. Außer dem Dienstvolk begleiten ihn kaum drei oder vier Edelleute; darunter jedoch unweigerlich die zwei Hauptfrevler, die ihn umgarnt halten, der Geheimsekretär Schenck von der Wehlen und der fluchwürdige Hofmarschall Benno von Treysa. Wenn es uns nun gelänge, im Dunkel des Stauffheimer Forstes die ganze glorreiche Jagdgesellschaft mit Einschluß des allergnädigsten Landgrafen dingfest zu machen …“

„Großartig!“ rief der rothaarige Hauptmann und schlug mit der Faust auf den Schwertgriff.

Auch Herr Theodor Welcker strich sich bewegt den ergrauenden Bart und nickte, als ob ihm der tollkühne Plan einleuchte. Der geistvolle Dernburger Rechtsgelehrte, der scheinbar so selbstlos die Glaustädter bei ihrem höchst gefahrvollen Werk unterstützte, war nicht ganz ohne Hintergedanken. Er wirkte insgeheim für seinen aufgeklärten, aber politisch ehrgeizigen Souverän, den Fürsten von Dernburg, der ihm ein unbegrenztes Vertrauen schenkte und von den Anzettelungen in Glaustädt Kenntnis hatte. Nur Woldemar Eimbeck wußte um diesen Sachverhalt. Er selbst hatte Herrn Theodor Welcker, mit dem er verwandt war, eingeweiht und herangezogen, und zwar in der Hoffnung, Fürst Maximilian von Dernburg werde im Notfall sich der bedrängten Glaustädter annehmen. Der staatskluge Theodor Welcker sah sofort ein, daß sich hier für die Dernburger Dynastie eine Aussicht bot, die nicht abgelehnt werden durfte. Wo der Ratsbaumeister die uneigennützigste Hingabe an die großen Ideen des Rechts und der Humanität voraussetzte, war zum erheblichen Teil der politische Egoismus im Spiele, der nun einmal, so lange die Welt steht, allenthalben das große Wort führt. Und die Berechnungen Theodor Welckers und seines erlauchten Herrn schwebten durchaus nicht schemenhaft in der Luft. Es war schon etlichemal vorgekommen, daß eine Landschaft sich wider den Territorialherrscher empört hatte und daß nachträglich der Kaiser den Aufrührern recht gab. Das Land wurde alsdann unter kaiserliche Verwaltung genommen und dem vertriebenen Territorialherrscher wieder zuerteilt, nachdem er bei seinem Eide gelobt hatte, sämtliche Mißstände, um die es sich handelte, von Grund aus abzustellen. Ein besonders störrischer Fürst hatte dreißig Jahre lang nur ein einziges Amt seines Gebietes zum Unterhalt angewiesen bekommen, bis er dann endlich nach Verlauf eines Menschenalters wieder vom Kaiser in die Regierung eingesetzt wurde. In anderen Fällen war von der Kaiserlichen Majestät ein noch strengeres Verfahren beliebt worden. Man hatte den Territorialherrscher einfach entsetzt und sein Land mit dem eines benachbarten Fürsten vereinigt. Etwas Derartiges konnte mit Glaustädt-Lich um so leichter geschehen, als Glaustädt noch zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges eine reichsunmittelbare Stadt gewesen, ebenso frei wie Augsburg und Frankfurt und die nordischen Hansastädte. Es kam jetzt nur darauf an, außer den Uebergriffen der Malefikantenverfolgung noch etliche andere Rechtswidrigkeiten und Ausschreitungen der Glaustädt-Licher Verwaltung nachzuweisen, und das konnte nicht schwer halten, da der Hofmarschall Benno von Treysa und der Geheimsekretär Schenck von der Wehlen so ziemlich auf allen Gebieten des Staatslebens ihren verderblichen Einfluß übten.

Auch die übrigen Mitverschworenen zollten dem Plan des Reißers und Malers Beifall. Kunz Noll entwickelte nun die Einzelheiten. Er kannte die Oertlichkeit des Stauffheimer Waldes hinlänglich. Im letzten und vorletzten Oktober bereits war ihm die landgräfliche Jagdgesellschaft begegnet, wie er am Rotfelsen dicht bei der Stauffheimer Burgruine den herbstlichen Baumschlag abkonterfeite. Zufällig hätte er mit dem Führer der kleinen Meute ein paar Worte gewechselt. Das nahm jedes Jahr ganz den gleichen Verlauf. Die Stauffheimer Burgruine mit ihrer unterirdischen Wölbung bot einen ausgezeichneten Schlupfwinkel für sechs Dutzend Bewaffnete. Man konnte dort gleich im dunklen Versteck den Landgrafen auf die Bibel schwören lassen, daß er die beiden Gaudiebe fortjagen, die schier verzweifelte Bürgerschaft freundlich anhören und niemand wegen der Mitwirkung bei diesem Handstreich jemals verfolgen wolle. Im äußersten Fall, wenn der Landgraf sich weigerte, blieb ja dann immer noch, was man bisher geplant: die gewaltsame Aktion im Innern der Stadtmauern. Und dann war es unleugbar ein Vorteil, wenn man den Landgrafen und seine Hauptratgeber in sicherem Gewahrsam hatte. Die Regierung zu Lich war so von vornherein lahmgelegt. Ein Wagnis blieb das alles ja zweifellos, aber besser der ehrliche Mannestod mit dem Stahl in der Faust als die fortwährende Unsicherheit, bei der kein Bürger der Landgrafschaft wußte, ob er nicht schon die folgende Nacht hinter den Gittern des Stockhauses verbringen würde.

Kurz vor Mitternacht trennte man sich. Nur der Rechtsgelehrte aus Dernburg blieb noch bis gegen Eins mit Woldemar aufsitzen. Er hatte beim Ratsbaumeister für die paar Tage seines Glaustädter Aufenthaltes Wohnung genommen und brannte vor Eifer, die Erörterungen des Reißers Und Malers noch einmal unter vier Augen durchzusprechen.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_376.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2016)