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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

der Hoflustbarkeiten und seiner mit geringem Gehalt verbundenen Ehrenstellungen müde, zog er sich 1755 auf sein Schloß Treben bei Altenburg zurück, wo er ganz den Musen und landwirtschaftlicher Thätigkeit lebte und im Jahre 1770 starb.

Bielfelds vertraute Briefe sind jedenfalls mit die interessantesten Erinnerungsblätter der Friedericianischen Epoche und atmen durchweg den Geist derselben, die Freigeisterei der Jünger Voltaires und ihren schlagenden Witz. Rudolf von Gottschall.     


Das Tagebuch.

Eine Backfischgeschichte von Hans Arnold.

      (Schluß.)

Den Tag der Abreise des bösen Dickus zu seinen Jagdfreunden hatte Lotte für den Abschluß des alten und die Eröffnungsfeierlichkeit des neuen Tagebuchs bestimmt. Sie traf dazu besonders festliche und umfassende Vorbereitungen, umstellte den Tisch mit ihren sämtlichen vierzehn Geburtstagslichtern vom neusten Wiegenfeste, setzte einen Blumenstrauß in die Mitte und wollte nun dem alten Tagebuch mit Schwung und Empfindung Lebewohl sagen und das neue anfangen.

Aber o Entsetzen! nur das neue – glänzend, leer und inhaltlos wie eine kalte Schönheit – lag da, das alte war fort!

Bei Lottes angeborenem Ordnungssinn regte sich zunächst noch eine leise Hoffnung, es könnte „irgendwo“ sein, sie riß alle Bücherschränke im Hause auf, verstreute deren Inhalt mit zitternden Händen über die ganze Stube, durchwühlte die Kommodenschübe und verirrte sich sogar in die Speisekammer, wo sie aber von der entrüsteten Köchin mit Energie hinausgewiesen und verdächtigt wurde, nicht Tagebücher, sondern Sultanrosinen zu suchen – was also allem Anschein nach auch schon vorgekommen war.

Das Tagebuch war fort – spurlos! – „verschwunden wie ein Benzinfleck“, wie jemand von schönen vergangenen Tagen gesagt hat – und die Eigentümerin, fast bewußtlos vor Verzweiflung, konnte am Abend nur mit Gewalt zum Schlafengehen gebrachtwerden.

„Suche nur morgen in Ruhe, vielleicht findet es sich!“ tröstete die Mutter und fügte allerdings bei: „Siehst du, das kommt von der Unordnung – warum läßt du immer alles herumliegen!“

Diese Schlußwendung, die von den Kindern etwas pietätlos mit dem Ausdruck gekennzeichnet wurde: „Muttchen knüpft eine Moral an!“ fiel als beißendes Pfefferkorn in den Honig des Trostbechers, und Lotte schluchzte sich mit Energie in den Schlaf, währenddessen sie noch ein paarmal unter das Kopfkissen griff, als erwartete sie, daß ein guter Geist ihr das verschwundene Tagebuch zur Ueberraschung darunterschieben würde.

Mit einem flüchtigen Hoffnungsschimmer wanderte Lotte am nächsten Morgen zur Schule – beim Aufräumen des Zimmers fand sich wohl schließlich das Tagebuch wieder! Sie beschwor noch in Hut und Mantel die Zofen des Hauses, „tüchtig zu suchen“, und war in der Schule so still, blaß und gesetzt, daß der Lehrer teilnehmend frug: „Lottchen, Sie befinden sich wohl nicht gut?“ was der Backfisch wahrheitsgetreu durch ein schwermütiges Kopfnicken zu bejahen in der Lage war.

Sie wurde demzufolge auch von der Singstunde befreit, da sie mit ihrer heiser gewordenen Stimme dem gerade geübten und nach einer munteren Polkamelodie gesungenen Liede von der „Wanderlust“ doch schwerlich hätte einewirksame Stütze sein können.

Dem Verfasser des Schulgesetzes, demzufolge die jungen Damen aus der ersten Klasse zu sittigem Nachhausewandeln verpflichtet sind, hätten sich heute aber die Haare einzeln zu Berge gesträubt, wenn er unsere Lotte hätte auf dem Heimwege beobachten können. Etwas dem „Wandeln“ Unähnlicheres wie die rasenden Hechtsätze, mit denen sie durch wie Straßen jagte, kann man sich allerdings kaum vorstellen.

Zu Hause angelangt, riß sie an der Klingel, als wenn es brennte, und stieß mit dem letzten Rest ihres Atems eben noch hervor: „Ist es da?“ Auf das betrübte Kopfschütteln der Mutter aber brach sie in ein erneutes stümisches Weinen aus, ein Geschäft, das sie mit ungeschwächten Kräften bis zum Mittagsessen fortsetzte. Zu dieser Feierlichkeit mußte sie erst mit Brausepulver und Baldriantropfen gekräftigt werden – ein noch nie dagewesenes Ereignis, das von den jüngeren Geschwistern mit namenlosem Interesse beobachtet wurde. Sie verschmähte bei Tisch sogar mit stummem Kopfschütteln eine äußerst wohlgeratene Mehlspeise, was als ernstes Symptom schwerer Seelenleiden angesehen und beurteilt wurde.

Der Vater, dem sein schlanker Backfisch mit dem sonst stets von Munterkeit und Frohsinn funkelnden Gesichtchen besonders ans Herz gewachsen war, hatte Lotte neben sich genommen und redete ihr tröstend zu, sich zu fassen und zu essen.

„Na, Lotte, Kopf hoch!“ sagte er und strich ihr die Haare aus der Stirn, „wer wird sich so zum Scheusal weinen! Du sollst sehen, dein Tagebuch kommt bald wieder – ich habe so meine leisen Ahnungen!“ Lotte sah ihn zweifelnd an – plötzlich schien ihr ein Gedanke zu kommen.

„Papa!“ rief sie überlaut und sprang auf, daß der Stuhl ein ganzes Stück zurückflog, „ich sehe dir’s an – du weißt, wo es ist – und jetzt weiß ich’s auch! Der Dickus hat es mir gestohlen – nein, diese Gemeinheit!“ Und die Thränenflut stürzte aufs neue mit der Gewalt eines Platzregens hervor. Der Vater lächelte mitleidig.

„Ruhig Blut!“, sagte er dann, „ich weiß, es ja nicht – und man muß die Menschen nicht leichtsinnig verdächtigen – besonders, wo es sich um solche schwarze Unthaten handelt. Aber der Ludwig sah mir gestern abend so heillos fidel aus und drückte sich mit so unheimlicher Geschwindigkeit. Da ist mir der Gedanke gekommen, daß er sich am Ende mal an dir rächen will, weil du ihm immer mit so auserlesener Ungezogenheit begegnest!“

„Und das wäre dir in mancher Weise ganz dienlich!“ knüpfte die Mutter an, „wenn ich es auch von Ludwig stark finde – das muß ich sagen – stark!“

„Er hat wohl nicht gedacht, daß sie es sich so bitterlich zu Herzen nehmen würde,“ begütigte der Vater, der mehr Verständnis für den Humor eines derartigen Diebstahls zu haben schien, „aber das Unglück ist doch in keinem Fall so groß, mein Mädel. Er kann es nicht lesen! Du hast ja doch den Schlüssel um den Hals, nicht wahr?“ Lotte nickte etwas getröstet.

„Wenn der gemeine Peter nur nicht etwa Nachschlüssel hat!“ meinte sie bedrückt und wehmütig und nahm die allgemeine Heiterkeit, die ihr Bedenken verursachte, sehr ungnädig auf.

Der Gedanke, der Dickus könnte seinen Jagdurlaub benutzen, einen Schlosser holen zu lassen, um das Tagebuch wie eine Thür zu erbrechen, verfolgte den Backfisch noch den ganzen Tag.

Wenn er es las! Wenn er alle die Gedanken, Reueergüsse, Bekenntnisse und Gedichte – die guten Vorsätze und gar den „Schwarm“ las! Lotten wurde es bei dem Gedanken siedendheiß. Ihr blieb dann nichts übrig, als bei der nächsten passenden Gelegenheit nach Afrika auszuwandern – auf dem Boden europäischer Kultur fühlte sie sich unmöglich geworden, seitdem da ein Referendar herumwandelte, der ihr Tagebuch gelesen hatte!

Daß der Vetter dabei ungezählte Kosenamen für sich selbst mit hinunterzuschlucken gezwungen war, unter denen „widerlicher Gummiball“ noch der mildeste war, das wäre ja ein kleiner Trost gewesen – aber ein sehr kleiner! Das sichere Gefühl: „Das Tagebuch ist da!“ trug schon mehr zur Fassung bei – und im Grunde glaubte sie nicht, daß der Dickus die Schändlichkeit so weit treiben könnte, es zu lesen – ein Rest menschlichen Anstands- und Rechtsgefühles lebte am Ende noch in seiner entartetere Seele!

Auf Eins aber freute sich der Backfisch – ein Umstand leuchtete als Stern durch die Nacht der Trostlosigkeit: wenn der Dickus wiederkehrte, müßte er sich doch vor seiner Cousine schämen, bis zur Bewußtlosigkeit bis zur vernichtendsten Vernichtung! Er, der sonst so überlegen zu lächeln, so von eben herab sie zu „uzen“ pflegte, mußte als ertappter Verbrecher klein – ach, so klein dastehen und konnte nie wieder auf seinen alten Standpunkt emporklimmen!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_256.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)