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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Die Konkavgläser, Hohlgläser, werden von 1 bis 20 numeriert; Konkavglas 1 ist das schwächste, 20 das stärkste, hohlste.

Sieht jemand ohne Glas nur bis 1 m, so wird er mit einem Hohlglas Nummer 1 in große Ferne sehen; sieht er ohne Glas nur bis 1/2 m, so wird er mit Nummer 2 in die Ferne gut sehen; sieht er ohne Glas nur bis 1/6 m, so wird ihm Konkavglas 6 (man schreibt dies auch „minus“, –6) die Fernsicht geben. Sieht er aber nur bis 1/10 m, also bis 10 cm, so müßte er mit einem Glase Nummer 10 in die Ferne scharf sehen.

Das ist aber nicht der Fall. Alle die Gläser, die stärker sind als 6, haben die sehr unangenehme Eigenschaft, daß sie die Gegenstände verkleinern und verzerren und daher von den Kranken mit Recht nicht gebraucht werden. Es giebt Aerzte, die aus theoretischen Gründen die Kranken zu so starken Gläsern zwingen wollen; allein wohl alle Kranken erklären, daß sie „sie nicht vertragen“, sie bekommen Kopfschmerzen, Unsicherheit, und sie sind klüger als ihre Aerzte, sie werfen diese starken Gläser fort.

Fig. 12.

Diese stärken Gläser, nach der neuen Rechnung Nummer 9 bis 20, verzerren nämlich die Bilder, da sie am Rande sehr dick sind und also wie Prismen daselbst wirken. Sie verkleinern aber auch alles und bringen die Kranken dazu, die Entfernung der Gegenstände für größer zu halten, also falsch zu projizieren. Das kann jeder gesunde Mensch nachfühlen, wenn er sich ein starkes Konkavglas, z. B. Nummer 16 oder 20, aufsetzt.

Somit waren wir bisher in der größten Verlegenheit, was wir Kurzsichtigen etwa raten sollten, welche nur bis 10 cm sehen. Man kann nicht jedem sagen: „Werden Sie Gastwirt, Gärtner, Seiler, Bierbrauer, Bäcker oder Landwirt.“ Besonders schlimm waren wir daran, wenn jemand in den besten Mannesjahren bei zunehmender Kurzsichtigkeit einen solchen Grad derselben erreichte, daß man ihm keine Brille mehr geben konnte.

Gerade diese Fälle können nunmehr geheilt werden, und zwar ist das der große Fortschritt der letzten Jahre, daß man auf operativem Wege solche Kranke normalsichtig machen kann. Und zwar wodurch? Dadurch, daß man ihnen die Krystalllinse aus dem Auge herausnimmt. –

Jetzt muß man natürlich fragen: Können denn die Lichtstrahlen noch in dem Auge vereinigt werden, wenn die Krystalllinse herausgenommen ist?

Wir haben im Anfange dieses Aufsatzes gesagt, daß die Lichtstrahlen im gesunden Auge nicht allein durch die Linse, sondern auch durch die Hornhaut (h Figur 12) gebrochen werden. Hat man die Linse herausgenommen, so geschieht die Brechung natürlich nur noch durch die Hornhaut allein. Diese Strahlenbrechung ist aber lange nicht mehr so stark, als daß die Strahlen auf der Netzhaut in einem Punkte sich vereinigen könnten, sondern da eben die Linse, die sie dahin zusammengebracht hat, fehlt, vereinigen sich die Lichtstrahlen, die von A kommen (Figur 12), erst hinter der Netzhaut in b und bilden auf der Netzhaut einen Zerstreuungskreis, c d. Ein gesundes Auge, dem die Linse herausgenommen ist, wird also in der Ferne nur ganz undeutlich, verschwommen sehen.

Es wird aber sogleich statt eines Zerstreuungskreises wieder ein scharfes Bild auf der Netzhaut entstehen, wenn man anstatt der herausgenommenen Linse vor die Hornhaut eine ähnliche Linse wie die herausgenommene, eine gewölbte, konvexe Glaslinse setzt (L in Figur 13). Diese bricht die Strahlen eben wieder richtig zusammen.

Fig. 13.

Natürlich muß ein normales Ange, dem die Linse herausgenommen ist, auch mehrere Brillen bekommen, eine schwächere für die Ferne und eine stärkere für die Nähe, da es ja nun wegen Mangels der Linse nicht mehr für verschiedene Entfernungen accommodieren kann. – –

Es ist jetzt wohl in allen Schichten der Bevölkerung bekannt, daß häufig im Alter sich die Krystalllinse trübt, grau wird, so daß die Pupille nicht mehr schwarz, sondern grau erscheint; diese Linsentrübung nennt man seit Jahrhunderten grauen Star. Die Kranken sehen von Tag zu Tag weniger und zählen schließlich nicht mehr die vorgehaltenen Finger, behalten aber guten Lichtschein. Man heilt den grauen Star bekanntlich, indem man die trübe Linse aus dem Auge herausnimmt. Natürlich müssen also solche Kranke, wenn sie operiert sind, zum scharfen Sehen für die Ferne und für die Nähe verschiedene Konvexbrillen erhalten. Man nennt diese Brillen auch Starbrillen.

Nun hat schon Boerhave vor 200 Jahren die Beobachtung gemacht, daß Kurzsichtige, denen wegen Star die Linse entfernt wurde, keine Konvexgläser für die Ferne brauchen, ohne Brillen in die Ferne scharf sehen, und er hat schon den ganz richtigen Grund angegeben.

Fig. 14.

Wenn das Auge kurzsichtig ist, zu lang gebaut ist, so werden (siehe Figur 14) Lichtstrahlen, die von A aus der Ferne kommen, vor der Netzhaut in B vereinigt, solange die Linse im Auge ist; auf der Netzhaut entsteht also beim Sehen in die Ferne ein Zerstreuungsbild, ein Zersteuungskreis e f; wird aus einem solchen Auge die Linse entfernt (Figur 15), so werden die Lichtstrahlen nur noch durch die Hornhaut (h) gebrochen, und es kann nun von dem Punkte A bei dem langen Bau des Auges auf der weit entfernten Netzhaut ohne Brille ein scharfes Bild B entstehen.

Der erste, der die Idee aussprach, man könnte ja durch Entfernung der durchsichtigen Linse, also ohne daß sie durch Star getrübt ist, die Kurzsichtigkeit heilen, war August Gottlieb Richter, Professor in Göttingen. Dieser sagte es schon 1790. Aber erst 1817 warf der berühmte Augenarzt Georg Josef Beer in Wien wiederum die Frage auf, da auch er sah, wie ausgezeichnet Kurzsichtige, die er an Star operiert hatte, ohne Stargläser in die Ferne sahen. Aber ebensowenig wie Richter wagte er eine solche Operation. Höchst interessant ist es heute, die eigenen Worte Beers zu lesen: „Wer steht,“ sagte er, „für den Erfolg dieser Operation überhaupt? Zumal bei der Ausziehung einer durchsichtigen Linse? Wird der Kurzsichtige nicht vielmehr selbst, indem er die Annäherung eines jeden Instrumentes deutlich sieht, automatisch dem Operateur die größten Hindernisse in den Weg legen? Wie schwer ist schon die Ausziehung des Stares bei einer noch nicht vollkommen verdunkelten Linse! Wer dieses nicht versucht hat, kann es, auch unmöglich beurteilen. Indessen lohnte es sich doch immer der Mühe, wenn sich ein solcher Höchstkurzsichtiger einmal wenigstens zu einem solchen Heilmittel verstände.“

Fig. 15.

Es ist nämlich in der That ein großer Unterschied, ob man eine trübe oder eine durchsichtige Linse aus dem Auge nimmt; je trüber sie ist, desto fester hängen ihre Teile miteinander zusammen, desto leichter ist die Entfernung.

Daher haben ja die Alten schon gesagt, der Star ist reif, d. h. die Linse ist so getrübt, daß sie zur Operation reif ist. Eine durchsichtige Linse aber ist wachsweich und kann nur in einzelnen Teilen entfernt werden, wobei noch viel zurückbleiben und Entzündung hervorrufen kann.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 868. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0868.jpg&oldid=- (Version vom 10.6.2023)