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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Grund. Heute vor dreizehn Jahren, dazumal hat der Vetter noch in Distelweiler gewohnt und hat seine Hämmel bis nach Straßburg und nach Paris hinein verhandelt und ist ein wohlhabender zufriedener Mann gewesen mit seinem braven fleißigen Weib – Gott hab’ sie selig! Also heute vor dreizehn Jahren ist das Mariele auf die Welt gekommen, und das hat ihrer Mutter das Leben gekostet. Am Stephanstag haben wir sie begraben, und ich hab’ ihrer Mutter keinen einzigen Liebesdienst mehr erweisen können als den, daß ich ihr Kind aus der Taufe gehoben habe. Am Abend, wie die Leidtragenden aus dem Hause gewesen sind, hat der Vetter den noch von seinem Weib aufgeputzten Christbaum angezündet, und ich bin darunter gesessen, das arme Tröpflein auf meinem Arm, und hab’ geweint. Die Lichter sind so nach und nach verloschen und der Vetter hat gesagt: ‚So, Base Lene, jetzt zünd’ ich keinen Christbaum mehr an!‘ Ich hab dann das Kind mit von Distelweiler herübergenommen durch Schnee und Regen, und Dein Vater hat das Mariele aufgezogen wie seine eigene Tochter, bis ich ihm selber die Augen zugedrückt habe. Die Glaskugeln und was sonst noch an dem Christbaum gehängt ist, hab’ ich auch mitgebracht; der Vetter hat mir’s sorgfältig in eine Schachtel gepackt in schneeweiße Lammwolle. Aber ich hab’s seitdem in der Schachtel gelassen und nicht angerührt.“

„Ja,“ fiel das Mädchen ein, „ich weiß noch gut, wie man mich vom Schloß geholt und mir gesagt hat, jetzt sei mein liebster Wunsch in Erfüllung gegangen, ich hab’ ein Schwesterle gekriegt. Aber ich bin fast ein bißle eifersüchtig geworden auf all die Liebe, die Du und der Vater an die Neuangekommene gewendet habt.“

„Wir haben dem Kind erwiesen, was sich gehört hat,“ fuhr die Mutter fort. „Und sie ist uns so etwas wie ein Ersatz gewesen für Dich; denn Du bist schon dazumal lieber auf dem Schloß gesteckt als in unserem engen Kramlädle. Der Vetter Daniel aber ist in die Fremde gegangen als ein armer Schafknecht, bis er sich im vergangenen Frühling in der Schäferei unserer Gutsherrschaft hat einstellen lassen. Nicht als ob er nach seiner Tochter in den dreizehn Jahren nicht gefragt oder nicht für sie gesorgt hätte. Zu ihrem Geburtstag hat er ihr immer etwas Schönes geschenkt. Aber vom ,Christkindle‘ hat er nie etwas aus der Fremde geschrieben. ‚Ich zünd’ keinen Christbaum mehr an‘ – das hat er bis zum heutigen Tag gehalten, und dabei wird er wohl bleiben.“

„Das kann er halten, wie er mag,“ entgegnete Margarete. „Aber wir zünden ihm den Baum an, versteht sich, erst draußen auf dem Kapellenbühl. Das Mariele trägt den Baum, und Du, liebe Mutter, gehst auch mit.“

„Ich weiß nicht, ob ich meinen Kramladen so stehen lassen kann. Am Heiligen Abend kommen ja gerade noch viele Kunden.“

„Ei, die Nachbarin wird gern für Dich einstehen, hat’s ja schon manchmal gethan.“

„Wir wollen sehen,“ entgegnete Frau Bosch und brach das Gespräch ab; denn in diesem Augenblick trat Vetter Daniel, der Schäfer, von seinen beiden Verwandten freundlich begrüßt, zur Thür des traulichen Gemaches herein.

Der Schäfer hängte seinen alten Pelzkragenmantel und seinen wetterfesten Lodenhut an den hölzernen Pflock in der Nähe des warmen Ofens, unter dem es sich sein treuer Hund Nero, ohne sich lange zu besinnen, behaglich gemacht hatte. Dann setzte er sich auf die Einladung der Base hin an den reinlich gedeckten Tisch.

Er hatte die wenigen Schafe, die ihm eigen gehörten, und mit denen er am Nachmittag und auf den Abend wieder ausfahren wollte, weil das Futter heuer gar so „klemm“ (rar) war, im Stall sorgfältig untergebracht, und nun ließ er seine erstarrten schwielenharten Finger, die heute morgen die Schippe regiert hatten, in der Stnbenwärme auftauen. Seiner Gamaschen, einer Fußbekleidung, die er sich in Straßburg beigelegt hatte, entledigte er sich nicht; er trug sie mit Stolz und ließ es sich wohl gefallen, daß man ihn im Dorf den „Gamaschendaniel“ nannte.

Nun schlug vom nahen Kirchturm des Dorfes die Mittagsstunde und das Mariele kam aus der Schule, wo sie in der letzten Stunde vor Mittag beim Pfarrer Konfirmandenunterricht genossen hatte. Sie ward von einigen Buben mit Schneeballwürfen verfolgt, denn ein Geburtstagskind muß es sich nach altem Herkommen im Dorf gefallen Lassen, daß ihm die Kameraden zur Erhöhung des Festes mit Neckereien zusetzen. Doch vor dem Hause kam Lammwirts Konrad der Flüchtigen zu Hilfe. „Schämet euch, vier Buben gegen ein Mädle!“ Das Mariele aber flog mit leuchtenden Augen und von der Kälte geröteten Wangen in die Stube, wo sie mit Jubel erst den Nero, der unter dem Ofen hervorkroch, begrüßte, dann die Base Lene, die Margarete und den alten Vater.

Kaum hatte der Schäfer Daniel Zeit und Gelegenheit, seine väterlichen Glückwünsche zum Geburtstag anzubringen, so wichtig war es seiner Tochter, ihm die Neuigkeit mitzuteilen, daß sie heute nachmittag keine Schule habe.

Das schmackhafte Mittagsmahl wurde von den Vieren ohne sonderlich lebhafte Unterhaltung eingenommen. Die Landleute auf der Alb nehmen es mit dem Essen ernsthaft; insbesondere bewies der Vetter Daniel, indem er kräftig zulangte, daß man dem Schäfer und seinem Hund nicht mit Unrecht nachsagt, sie seien keine Kostverächter.

Nach Tische wurde das Mariele in dem Gemache nebenan, in der „Stubenkammer“, wohin sich die beiden Mädchen zurückgezogen, von Margarete in das Geheimnis eingeweiht, daß man heute dem Vater nach altem guten Brauch den Christbaum auf den Kapellenbühl bringen werde.

Marie klatschte bei dieser Nachricht vor Freuden in die Hände. „Weißt Du,“ sagte sie, „das ist dann bei uns ganz so, wie es in alten Zeiten in Bethlehem gewesen sein muß. ,Und es waren Hirten in der selbigen Nacht auf dem Felde, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn umleuchtcte sie, und sie fürchteten sich sehr.‘“

„Dein Vater fürchtet sich aber nicht,“ entgegnete Margarete. „Wenn er Angst hätte so allein auf dem Feld, so käm’ er zu uns in die warme Stube am Heiligen Abend und an Deinem Geburtstag.“

„Vor was sollt’ er auch Angst haben?“ fragte das Kind treuherzig. „Ist ja der Nero bei ihm.“

„Je nun, ich weiß, warum eigentlich Dein Vater heute die Nacht auf dem Felde zubringen will. Nach einem Schatz will er graben. Weißt Du, draußen auf dem Kapellenbühl, auf der Heide sind Gräber von alten Königen, die man dort vor zweitausend Jahren begraben hat. Das hat im letzten Sommer der gelehrte Herr Professor aus Stuttgart, der auf dem Schloß gewohnt hat, Deinem Vater gesagt. Bei den Schäfern aber ist’s ein alter Glaube, daß dort, wo an einem Rain auf der Heide drei Schafe in der Christnacht bei einander stehen und fressen, die Köpfe gegeneinander, daß dort ein vergrabener Schatz zu finden sei. Das mußt Du aber für Dich behalten und darfst meiner Mutter beileibe nichts davon sagen. Sie kann solchen Aberglauben nicht leiden. Und besser wär’s schon, Dein Vater guckte in der Christnacht an einem brennenden Christbaum hinauf als in ein altes Heidengrab hinunter.“

Marie nickte nachdenklich. Es war ihr doch etwas unheimlich, daß ihr Vater auf dem Kapellenbühl in der Heiligen Nacht Schatzgräberei treiben wollte, wenn er’s auch nur dem Stuttgarter Professor zulieb that. Margarete kam rasch auf etwas anderes zu reden. Schon um fünf Uhr sei die Bescherung auf dem Schloß. Um sieben sei sie frei, dann könne man den Christbaum auf den Kapellenbühl hinaus tragen. Mariele solle nur den herrschaftlichen Jäger Oswald darum bitten, daß er aus dem Park ein nettes Tannenbäumle abgebe.

Die Lichter könne man im Kramladen haben; für die Glaskugeln und den sonstigen Schmuck des Baumes werde die Mutter sorgen. Auf dem Schloß solle Marie einen Korb mit ein paar Weinflaschen und Backwerk holen, den die gnädige Herrschaft für ihren treuen Schäfer schon zurechtgestellt habe. Und im „Lamm“ müsse sie dann noch für eine Laterne sorgen, der Hausknecht werde ihr gern eine geben.

Das Kind ging mit Freuden auf alles ein, was Margarete dem Vater zulieb thun wollte. Nur hinsichtlich des Jägers Oswald hatte sie einige Bedenken. „Er ist so streng,“ sagte sie, „und hat die jungen Tannenbäume so lieb, wie wenn’s seine Kinder wären. Auch fürcht’ ich mich vor seinem Hund.“

„Dann nimmst Du den Nero mit.“

„Den braucht der Vater! Mir giebt der Jäger kein Tannenbäumle. Ich mein’ aber, Dir thät er’s nicht abschlagen, Margret.“

Margarete wandte sich errötend ab. Sie war allerdings selbst schon seit einigen Monaten überzeugt, daß ihr der stattliche herrschaftliche Jäger kaum einen Wunsch abschlagen würde. Aber gerade deswegen konnte sie nicht zu ihm gehen und ihn um eine Gefälligkeit bitten. Ein dreizehnjähriges naseweises Ding braucht ohnehin von solchen Sachen nichts zu wissen. „Zum Jäger gehst Du, Mariele,“ sagte sie kurz abbrechend. „Ich hab’ an meiner Klöppelarbeit noch zu thun. Doch kann ich den Korb bei der gnädigen Herrschaft abholen.“

Während Mariele die ihr von Margarete erteilten Aufträge mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 838. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0838.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2023)