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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

als in ganz Europa. Aber unter diesen 200 Millionen hat es bisher keine gegeben, welche die Tracht der europäischen Damen angenommen hätte, ja, ich habe in China keine einzige Chinesin gesehen, die auch nur ein Hütchen, ein Stiefelchen, einen Handschuh oder Strümpfe nach europäischem Muster getragen hätte! Ein ähnliches Beharren an althergebrachten Trachten, eine ähnliche Standhaftigkeit habe ich bisher bei keinem Volke angetroffen. Wie ihre Urgroßmütter, so kleiden sie sich auch heute noch, und so werden sich voraussichtlich auch ihre Enkelinnen kleiden. Die Chinesin hat so wenigstens Gelegenheit, ihre Kleidungsstücke aufzutragen, sie braucht sie nicht nach einjährigem Gebrauch wieder bei Seite zu legen. Sie kann ihren Geist, ihre Mittel, ihre Zeit nützlicheren Dingen zuwenden als der leidigen Mode.

Im ganzen großen Weltreiche herrscht eine merkwürdige Gleichheit der Frauentracht, wie sie sonst in so ausgesprochener Weise nirgends vorkommt. Von der Mandschurei bis Tonkin, von Tibet bis ans Gelbe Meer zeigt der Schnitt der Kleider bei Hoch und Niedrig nur geringe Unterschiede. Am einfachsten sind wohl die armen Frauen jener Hunderttausende gekleidet, welche in Kanton auf dem Perlflusse leben. Ihre Armut gestattet ihnen keine anderen Kleidungsstücke als ein blaues bis über die Knie reichendes Oberhemd, an der Seite zugeknöpft, und ein Paar blaue Beinkleider aus Baumwollstoff, die bis nahe an die Knöchel reichen. Sie kennen keine regelrechte Kopfbekleidung, ebenso wenig kennen sie Unterwäsche.

Die einzige Koketterie, welche chinesische Frauen entfalten, betrifft die gewöhnlich sorgfältige Haarfrisur, welche sie noch mit natürlichen Blumen schmücken; aber die Chinesin flicht ihre Haare nicht in Zöpfe, sondern kämmt sie glatt von der Stirn nach hinten und steckt sie dort, bandartig zusammengeklebt und verschlungen, mit einer langen Stecknadel fest. Zuweilen wird darüber ein Stirnband gebunden und dieses mit Perlen und Edelsteinen geschmückt, wie in der nebenstehenden Abbildung ersichtlich. Die Mehrzahl der Chinesinnen tragen überdies Ohrgehänge aus milchgrünem Nephritstein (Jade), und jene, welche sich durch Arbeit mühsam einige Dollars zusammensparen, legen diese gewöhnlich noch in einem ebensolchen Armring aus einem Stück an. Reichen ihre Mittel nicht dafür aus, so kaufen sie sich wenigstens Ohr- und Armringe aus grünlich milchigem Glas.

Chinesische Frau aus dem Volke.

Andere Kleidungsstücke als das Baumwollhemd und die Beinkleider kennen die Frauen und Mädchen der niedersten Stände nicht; auch die Feldarbeiterinnen der südlichen Provinzen tragen sie Tag und Nacht. Bei brennender Sonnenhitze schützen sie ihren Kopf durch große Strohhüte, und dann sind sie aus einiger Entfernung von den Männern kaum zu unterscheiden, besonders wenn diese ihren langen Zopf nicht über den Rücken fallend, sondern um den Kopf gewunden tragen. In China, diesem Lande der verkehrten Welt, tragen die Männer Zöpfe, nicht die Frauen.

Je höher man in der gesellschaftlichen Rangstufe der Chinesen aufwärts steigt, desto zahlreicher werden die Kleidungsstücke der Frauen. Jene, denen man in den Straßen Kantons, Swataus, Futschaus etc. begegnet, tragen Sandalen oder Schuhe. Ihre Füße und Knöchel sind mit weißen Baumwollstreifen umwunden, welche zuweilen das untere Ende der Beinkleider umfassen. An ihren großen oder vielmehr natürlichen Füßen erkennt man, daß sie umherziehende Taglöhnerinnen sind, die sich ihren Unterhalt heute hier, morgen dort durch saure Arbeit verdienen. Die nächst höhere Stufe, die Frauen der Handwerker und kleinen Händler, ist durch reinlichere Kleidungsstücke und bessere Schuhe kenntlich, die bei den Chinesen beider Geschlechter niemals aus Leder, sondern stets aus Stoff mit dicken Filzsohlen ohne Absätze bestehen. Gewöhnlich ist die Farbe der Schuhe schwarz. Sind sie blau, so befindet sich ihr Träger in leichter Trauer, sind die Schuhe und mit ihnen auch die Kleidungsstücke weiß, so befindet sich ihr Träger in tiefer Trauer. Nur die Unterkleider sind unter gewöhnlichen Verhältnissen weiß, und der Besitzer derselben zeigt dadurch allein schon, daß er dem Mittelstande angehört. Eine Frau aus diesen Ständen läßt sich schon aus der Ferne als solche durch ihren beschwerlichen, unbeholfenen Gang erkennen, der sich ausnimmt, als ginge sie auf kurzen Stelzen einher. Nähert man sich ihr, so gewahrt man auch die Ursache dieses eigentümlichen Ganges, denn die Füße zeigen sich wie schmale Ponyhufe, mit weißen Baumwollstreifen umwunden und in winzigen Schuhen steckend, die, kaum eine Spanne lang, mit bunten Zieraten und Stickereien versehen sind.

Chinesische Frau aus den höheren Ständen.

Viele Reisende, die auf ihrer Jagd um den Erdenglobus flüchtig durch Kanton oder Shanghai wanderten, berichten, die Unsitte der Verkrüpplung der Füße sei im Abnehmen begriffen. Sie haben eben nur Frauen der untersten Stände gesehen, bei welchen die Fußverkrüpplung überhaupt nicht vorkommt. Aber bei den Frauen der mittleren und höheren Stände findet sie heute geradeso statt wie vor Jahrhunderten. Je höher die gesellschaftliche Stufe, welcher die Frau angehört, desto mehr werden auch ihre Füße von früher Jugend auf eingezwängt, desto kleiner erscheinen die Füßchen, ja ich selbst habe in China neue sowohl wie getragene Schuhe erworben, die neun bis zwölf Centimeter lang sind! Als ich in einem Schuhladen in Hongkong zum erstenmal derlei Schuhe erblickte, hielt ich sie für solche von zwei- oder dreijährigen Kindern, bis ich erwachsene Frauen mit solchen Schuhen einhertrippeln sah! Hätte man mir dergleichen in Europa erzählt, ich hätte es für unglaublich gehalten. Die winzigen schmalen Füßchen in den hübschen bunten Seidenschuhen nehmen sich ungemein zierlich und kokett aus, besonders wenn die Damen sitzen oder stehen. Gehen sie, so kann man sich der Gedanken an die Qualen, die sie ausstehen müssen, nicht erwehren, aber hat man Gelegenheit, einen nackten derartigen Fuß zu sehen, dann wird man von Entsetzen erfaßt! Im chinesischen Hospitale von Hongkong zeigte mir der (europäische) Arzt vom Dienste die Füße einer kranken Frau. Die vier kleineren Zehen waren unter die Fußsohle eingebogen, und ihre Nägel erschienen in die Sohle eingewachsen. Die Ferse war nach vorn gezwängt, derart, daß der Abstand zwischen dem fleischlosen Fersenknochen und der Spitze der großen Zehe kaum zwölf Centimeter betrug; und die Wadenknochen waren vollständig fleischlos, nur mit der runzligen, roten Haut bedeckt!

Das ist chinesische Frauenschönheit, auf welche die Männer den größten Wert legen! Das sind die Reize, welche die chinesische Braut besitzen muß, wenn sie überhaupt einen Mann finden will! Von einer Abnahme dieses entsetzlichen Gebrauches in China habe ich nirgends etwas vernommen, auf dem Lande wie in der Stadt sind die Kin lien, d. h. goldenen Lilien (so heißen die verkrüppelten Füße bei den Chinesen), nach wie vor ein Schönheitszeichen, und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0562.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2024)