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überwältigenden, einzig in seiner Art dastehenden Genuß dar. Bevor nämlich die Tamina das Badegebäude erreicht, zwängt sie ihr Gewässer durch eine enge, wohl einige 100 m tiefe und etwa 1 km lange Klamm oder Spalte, und in dieser entspringt die Quelle. Mit einer Eintrittskarte für 1 Franken versehen, die man in dem Bureau löst, das in einer Fensternische des vorderen Ganges eingerichtet ist, verläßt man das Gebäude hart neben der Trinkhalle und überschreitet auf einer Brücke den unbändig grollenden Waldstrom, Nun befindet man sich auf dem hölzernen Steg mit Geländer, der auf Vorsprüngen der Felswand des rechten Ufers angelegt ist und bis zur Quelle führt. Es scheint dem Neuling, als trete er in Dantes Hölle. Scheinbar himmelhoch türmen sich zu beiden Seiten schroffe, nackte, nicht nur senkrechte, sondern überhängende Felswände empor, die sich an einigen Stellen thatsächlich verbinden. Ueber eine derselben, die „Naturbrücke“, führt der Weg vom Bade nach dem Dorfe Pfävers und steigt von dort an auf der schwindelnden „Felsentreppe“ weiter, um auf grünen Matten zu enden. Je tiefer man in die Klamm eindringt, stets auf dem sicheren Galeriestege etwa 3 m über dem Flusse, desto beängstigender wird die Felsenge, desto wilder erschallt das Wallen und Sieden, Brausen und Zischen der eingezwängten Tamina, desto höher scheinen die Wände zu dem nur bisweilen in einem blauen Flecke herniederscheinenden Himmel zu steigen! Aber goldene und grünliche Lichteffekte bezaubern das Auge, von der unsichtbaren Sonne gespendet, die, im Zenith stehend, ihr blendendes Licht in den finsteren Gründen bricht und freundliche Grüße aus der grünen Vegetation der Oberwelt in die Tiefen des Todes herniedersendet. Bald scheinen Felsvorsprünge mit dem Absturz zu drohen, bald vertiefen sich Höhlen in das graue Gestein, und der ohnmächtige Mensch erschauert bei der Wirkung, die alle diese Naturwunder auf ihn hervorbringen. Gespenstig erscheinen die Vor- und Nachwandernden und Begegnenden dem Besucher: wie Schatten tauchen sie auf und verschwinden.

An der Quelle der Tamina.

Tief ergriffen erreichen wir, nach einem Gange von zehn Minuten, eine erhöhte Terrasse, wo Weg und Steg mündet. Hier kann man sich nach dem erschauten Grauen sammeln und fassen. Seitwärts, rechts auf unserem Bilde S. 525, gähnt eine dunkle Pforte, zu welcher ein freundlicher Wärter mit einem Lichte tritt, uns einladet, die Quelle zu besuchen, und uns den in der feuchtkühlen Schlucht notwendigen Ueberzieher abnimmt, weil es nun in den heißen Schoß der Erde hinein geht. Wir folgen ihm in einen gleichmäßig ausgehauenen Stollen, einige zwanzig Schritte weit, während sich das Licht an den feuchten Steinwänden spiegelt und eine warme Luft uns bis ins innerste Mark durchdringt. Wir kommen zu einem Geländer, hinter dem ein schwarzer Schlund gähnt, aus dem Dämpfe emporsteigen – es ist die Quelle, die hier eine Wärme von 37,5° C hat, von mineralischen Bestandteilen beinahe frei ist und im Sommer 4000 bis 5000 Liter in der Minute liefert. Der Wärter schöpft Wasser und bietet jedem Besucher ein gefülltes Glas. Jene junge Dame lacht und meint: „Brauchte man soweit herzukommen, um laues Wasser zu trinken?“ Aber der ältere Herr mit der Brille deutet auf die Felswände und erinnert an die großartige Umgebung, die den Besuch wohl rechtfertigt und unvergeßlich macht. Wieder herausgetreten, kann sich die besuchende Gesellschaft noch nicht so leicht von der kleinen Terrasse trennen und schaut staunend zu den Felsen empor, in welchen merkwürdigerweise mehrere viereckige Löcher zu erblicken sind. Wir haben die Spuren der Balken vor uns, die einst in dieser schauerlichen Tiefe das Badehaus trugen, zu dem die Patienten aus der lichten Höhe an Stricken herabgelassen werden mußten.

Die Quelle wurde nach der Sage von einem Jäger entdeckt, der im elften Jahrhundert eine von Raben verfolgte Taube, das Wappentier und Wahrzeichen des Klosters, retten wollte und auch rettete und seinen Fund dem Abte, seinem Herrn, berichtete. Im Gebrauche steht sie, wie nachgewiesen, erst seit 1242, und erst seit dem 14. Jahrhundert bestand jenes Haus in der furchtbaren Tiefe, nebst einer Kapelle in einer Grotte, in welcher die Ankommenden um Heilung flehten und die Geheilten Gott dankten. Kein Geringerer als der berühmte Arzt, Naturforscher, Mystiker und ruhelose Wanderer Theophrastus Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus, war der erste, der im Auftrage des Abtes 1535 das Bad beschrieb, in welches zu seiner Zeit eine Treppe herabgeführt wurde. Es folgten sich im Laufe der Jahrhunderte mehrere Beschreiber, deren Bücher in der Zahl von anderthalb Dutzend uns vorliegen. Nachdem das alte in der Tiefe schwebende Haus, in welchem auch Ulrich von Hutten, wenn auch vergeblich, Heilung gesucht, wiederholt abgebrannt war, ließ Abt Jodocus im 17. Jahrhundert das Badehaus auf der heutigen Stelle bauen. Im Jahre 1630 wurde die Quelle feierlich herausgeleitet. Um jene Zeit waren die warmen Heilquellen fast überall in Europa zu Vergnügungsstätten geworden, in welchen ein üppiger Luxus entfaltet wurde. Derselbe offenbarte sich nicht nur in den Herbergen, sondern auch in den Badehäusern selbst. Da herrschte ein ausgelassenes Treiben, in das die Badegäste der Neuzeit sich nimmer würden hineinfinden können. Den ganzen Tag hindurch waren die Bassins mit einer frohgelaunten Menge gefüllt, die allerlei Scherze trieb, sang, Reigen aufführte und sogar – zechte, denn mitunter waren im Wasser Tische mit Speisen und Getränken aufgestellt. Der Florentiner Poggio Bracciolini hat dieses Treiben, wie er es in Baden im Aargau kennengelernt, ausführlich geschildert. Genannter Abt Jodocus war bestrebt, dieser Unsitte zu steuern und erließ für Pfävers eine strengere Badeordnung. In derselben werden allerlei Ungehörigkeiten verboten, damit nicht die Alten und Kranken „mit Verdruß im Bade sitzen oder gar daraus weichen müssen“. Es sollte von dem Freibade Pfävers „alle Leichtfertigkeit, Muthwillen, Aergernuß, Raufen und Schlagen . . . alle Sünd und Laster“ ferngehalten werden. Die Sitten besserten sich auch mit der Zeit, die Bäder wurden mehr und mehr zu ruhigen Heilstätten. Pfävers blühte weiter. Seine heutige Gestalt erhielt das Badegebäude, nachdem 1704 Abt Bonifacius den Grundstein dazu gelegt hatte. Seine späteren Schicksale sind schon in unserer Einleitung besprochen.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0527.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)