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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

„Ja – aber nicht bloß, weil er mir oft was schenkt!“

Mein Onkel – mein Onkel Lutz ist auch sehr gut – den haben wir alle sehr lieb; ich hab’ nämlich noch zwei kleine Schwestern! Hast Du auch welche?“

„Nein, ich bin bloß allein!“

„Aber wir spielen heute zusammen, ja? Onkel Lutz sagt, wir sollen!“

„Der ist nett, Dein Onkel und dann können wir auch spielen, aber Du mußt mich nicht schlagen!“

„Fällt mir gar nicht ein, Dich zu hauen, wo Du mir nichts gethan hast!“ Die beiden neuen Freunde faßten einander bei der Hand und lächelten sich an.

Unterdessen hatte die Gesellschaft eine sehr eifrige Debatte über den bevorstehenden Spaziergang geführt. Eine Mutter erklärte, der Gang zu den Klippen sei nichts für Kinder, und sie müsse dann ihr kleines Mädchen nach Hause schicken. Einige stimmten dem bei, andere wieder erklärten sich dagegen.

„Ich gehe nicht ohne mein Kind!“ sagte Hildegard Bingen mit ihrer sanften, festen Stimme.

„Natürlich nicht!“ rief Trutzberg lebhaft. „Fredy muß mit dabei sein! Und wenn er müde wird, dann trage ich ihn!“

„Ich werde auf keinen Fall müde!“ ließ sich Fredys Stimmchen in sehr bestimmtem Ton vernehmen.

Alles lachte. Frau Hildegard warf dem Knaben einen mahnenden Blick zu, in dem zu lesen stand: „Was hattest Du mir versprochen?“

Das Kind wurde rot und schlug den Blick zu Boden, ohne etwas zu erwidern.

„Meine Verehrten, wenn wir noch lange hier stehen, wachsen wir fest!“ rief ein jovialer Oberlehrer. „Die schöne, kostbare Zeit verstreicht, und der Weg bis zu den Klippen ist ziemlich weit!“

Unter Scherzen und Lachen brach man auf. Lutz von Bredwitz warf sich zum „Kindermädchen“ auf und nahm die vier Jüngsten der Gesellschaft in seine Obhut. Frau Hildegard warf ihm einen dankbaren Blick zu – sie wußte ihr Kind gut aufgehoben und konnte sich ruhig demjenigen widmen, an dessen Arm sie ging.

Ruhig? Ach, sie war weit davon entfernt, dies zu sein. Bis in die feinen Fingerspitzen hinein fühlte sie ihr Blut klopfen ... Schüchtern hob sich ihr Auge zu dem stolzen, regelmäßig geschnittenen Gesicht empor, das sich so angelegentlich zu ihr herabneigte. Sie wollte es so gern studieren, dies Gesicht, so gern in diesen Augen lesen … man hatte sie oft versichert, sie sei eine gute Menschenkennerin, und sie hatte sich selbst dafür gehalten – – aber wo die Leidenschaft zum Wort gekommen ist, da ist es vorbei mit dem Beobachten und Ueberlegen! Sie konnte auch nicht auf das achten, was er zu ihr sagte …. wie er es sagte, das war ihr alles! Ihr Herz sprach mit, sobald der vibrierende Ton seiner Stimme ihr Ohr traf oder war es doch ihr Herz nicht? War das nicht am Ende doch daheim im schönen stillen Landgut geblieben, im schönen, stillen Zimmer, wo am Winterabend die rote Flamme im Kamin flackerte, der Wind den körnigen Schnee gegen die Fensterscheiben warf und eine tiefe sympathische Stimme ihr geistvolle, bedeutende Dichterworte vorlas? – Dort war kein Bangen, kein Schwanken gewesen, nur tiefes Verstehen und geistiges wie seelisches Geborgensein, … hier … ach, wer sagte, wer zeigte ihr, wo ihr Glück lag? Und handelte sich’s um ihr Glück allein? – Wie eine Vision sah sie wieder das schöne trauliche Gemach mit dem lodernden Kaminfeuer und, an das Knie des Vorlesers gelehnt, einen kleinen bleichen Knaben, zutraulich und zärtlich sein Köpfchen an die Schulter des alten Freundes geschmiegt … und der kleine bleiche Knabe war ihr einziges, geliebtes Kind! –

„Gnädigste Frau sind so tief in Gedanken!“ sagte die Stimme an ihrer Seite.

Sie zuckte zusammen, wurde rot und lächelte verlegen. Konnte sie ihm sagen: „Meine Gedanken drehten sich alle um Dich?“

Er, der schöne Kürassierlieutenant, nahm mit zwei Fingern der freien linken Hand seinen Schnurrbart gefangen und drehte ihn ungeduldig aufwärts. Mein Gott, war diese Frau philiströs und schwerfällig!! Man kam keinen Schritt weiter mit ihr! Wären ihre Augen nicht gewesen, diese sprechenden, aufgeregt glänzenden Augen, die immer so bewundernd zu ihm emporsahen … wahrhaftig, er hätte nicht einmal zu sagen gewußt, ob er ernstliche Chancen habe, ob es sich lohne, das entscheidende Wort zu sprechen! Aber ob sie ihn heute schon dazu würde kommen lassen, wie er es so gern gewollt, das schien ihm doch sehr zweifelhaft. Und er hatte sich eine Art von Programm zurechtgemacht, in welchem dieser Spaziergang nach den Klippen eine sehr wichtige Nummer bildete! Freilich, so ganz vom Zaun brechen ließ sich die Sache nicht, aber die Ungeduld raubte ihm alle Ruhe und machte ihn viel erregter noch, als er es ohnehin war. Seine goldene, schöne Freiheit – nun sollte er wirklich darangehen, sie zu opfern – oder doch wenigstens ein gutes Stück davon! Und um dieser Frau willen, die so gar nicht „sein Genre“ war, die er sich aus freiem Antrieb niemals ausgesucht haben würde! Sicher war sie unsäglich tugendhaft, moralisch, brav, wahrheitsliebend – mit einem Wort: langweilig! Und dann hatte er sie stark im Verdacht, mit „geistigen Interessen“ behaftet zu sein, für Kunst und Litteratur zu schwärmen und wissenschaftlich gebildet zu sein! Dies war bei Frauen ein Standpunkt, den er „das letzte“ nannte, er konnte ihn durchaus nicht vertragen! Wie würde man sich mit einer solchen Frau zu unterhalten haben? Von Amüsement mußte man natürlich ein für allemal absehen – aber einfach: was redete man mit ihr? „Ach,“ tröstete er sich endlich, „wenn sie sehr verliebt sind, die Weiber, kommt’s weiter nicht so viel drauf an!“

Den Dienst hätte er ungern quittiert, er kam sich noch zu jung dazu vor und war gern Soldat. Besitzer eines Rittergutes aber – warum nicht? Und es war ein stolzes, ein schönes Rittergut, er hatte sich genau informiert. Dort im Sommer ein paar Monate leben, Gastfreundschaft im großen Stil ausüben, sich die halbe Garnison herausbitten, im Herbst mit den Kameraden jagen und nach der Scheibe schießen, tüchtig durch die Wälder reiten, ein gutes Vollblutgestüt anlegen im Winter dann in der Stadt ein hübsches Haus machen, jours fixes und Hausbälle in Scene setzen … das wäre nach seinem Sinn, das würde sich aushalten lassen! Ein ungleiches Paar würden sie allerdings abgeben, er und diese Frau – sie war auch viel zu klein für ihn, er liebte die junonischen Gestalten. Vielleicht, wenn man sie besser anzog, konnte sie doch repräsentabler werden. So, wie sie da neben ihm herschritt, in dem schlichten grauen Rock und der blauseidenen Bluse, sah sie fabelhaft unscheinbar aus. Und dieser verzogene Bengel, von dem sie sich gewiß nie würde trennen wollen! Bah, war sie erst einmal seine Frau, so setzte er’s auch durch, daß der Junge ins Kadettenhaus kam, obgleich er freilich zum künftigen Offizier so ungeeignet wie nur möglich erschien. Ja, ja, Hans Henning, Edler von und zu Trutzberg, wenn man zum erstenmal in seinem vielbewegten Erdendasein einen ernstlichen Heiratsantrag wagen will, das kostet Kopfschmerzen! – –

An einem besonders schönen Aussichtspunkt machte die wandernde Gesellschaft für eine Viertelstunde Rast. Man war schon ein gutes Stück gestiegen, unmerklich beinahe, da der Weg sich sanft emporhob. Nun sah man drunten, eingebettet in ein grünes Thal, ein weißes friedliches Dörfchen liegen, hier und dort eine weidende Herde, hinter den leicht gewellten Hügelrücken die weite blaue See, auf der hin und wieder ein helles Segel im Sonnenschein glänzte.

„Vertrauen Sie mir Ihren Schirm an, ich will Sie schützen!“ sagte Hans Henning und dämpfte seine Stimme zu einem leisen einschmeichelnden Ton herab. „Ich will mich bemühen, es geschickt zu machen, damit Sie sehen. Daß Sie gesehen werden, möchte ich gern vermeiden!“ Und nun manövrierte er mit dem weißen Spitzenschirm und bog sich tief über sie und sonderte sie und sich selbst vollkommen gegen die übrigen ab, daß ihnen nur ein kleiner Lugaus blieb für das liebliche Landschaftsbildchen zu ihren Füßen, und wenn sein beredter Blick den ihrigen traf und eine verräterische Blutwelle um die andere in ihre blassen Wangen stieg, dann faßte seine Hand von neuem nach dem Schnurrbart, diesmal aber, um ein Lächeln des Triumphes zu verstecken.

So kam es, daß die beiden und auch die anderen, die eifrig im Gespräch waren, den Wanderer nicht bemerkten, der vom Dörfchen her langsam den gewundenen, etwas beschwerlichen Fußpfad aufwärts stieg. Und hätte ihn jemand bemerkt, so hätte man ihn kaum sonderlich beachtet; er konnte einer der Bewohner des kleinen Badeortes sein, und in seiner Erscheinung lag nichts, was irgendwie in die Augen fiel. Kaum mittelgroß, tief brünett, das Haar um Stirn und Schläfen herum schon ein wenig grau, in einen einfachen dunkelblauen Sommeranzug gekleidet, einen Strohhut mit breitem schwarzen Band über der Stirn – solcher Persönlichkeiten giebt es viele, man sieht flüchtig drüber hin und drüber weg, ohne sich weiter etwas zu denken.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0494.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)