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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Dame[1], ein, welche als Nachbarin an der wohlbesetzten Tafel einer süditalienischen Villeggiatur mit schlecht angebrachter Enthaltsamkeit auf die Fleischgänge verzichtete, um stets mit kaum geschwächtem und sicher nicht schlechtem Appetit sich an den süßen Nachspeisen schadlos zu halten. Ihr Umfang wuchs und wuchs trotz redlicher Bemühung, ihm durch Spaziergänge zu steuern, bis eine mitleidsvolle Bemerkung ihr das Unbegreifliche aufklärte.

Also thunlichste Einschränkung von Zucker und Stärke, wohingegen relativ große Eiweißmengen der Entfettung keinen besonderen Abbruch thun! Darin stimmen so ziemlich alle Autoren überein. Anders die Ansichten über die Frage nach der Zulässigkeit des Fettes selbst in der Nahrung. Während die zu entschiedener Berühmtheit gelangte und fraglos recht wirksame Bantingkur das Fett als Nahrungsbestandteil noch in höherem Grade als die Kohlehydrate verbietet, ein Regime, das bis in die neueste Zeit bewährte Spezialisten, u. a. die Prof. Oertel und Kisch, vertreten, will die neuere Ebsteinsche Methode von der Entziehung des Fettes nicht viel wissen. Im Gegenteil! Und so weit ich aus eigener Anschauung die praktischen Resultate übersehe, kann man in der That in Bezug auf Butter, Milch und fette Saucen etwas liberaler als Banting sein, ohne – ganz im allgemeinen – eine wesentliche Einbuße in der Wirkung zu riskieren. Nicht wenige mit trefflichem Appetit ausgestattete Opfer unsrer Krankheit werden die Möglichkeit, ihren Hunger durch fettreichere Nahrung besser stillen zu dürfen, mit innigem Dank begrüßen.

Aber auch die Eiweißzufuhr darf nicht über ein gewisses Maß gesteigert werden. Wir legen auf diese leider nicht immer mit dem genügenden Nachdruck betonte Warnung ein großes Gewicht! Das beliebte „Essen Sie Fleisch und Eier, so viel Sie wollen“ kann Böses stiften und hat bei Völlern schon viel Unheil angerichtet. Ein Kollege, der Fett, Stärke und Zucker für einige Monate so gut wie ganz gemieden, aber unglaubliche Mengen Fleisches vertilgte, ging, obzwar er sonst nach keiner Richtung hin gegen die ärztlichen Vorschriften verstieß, aus der „Kur“ wesentlich – wohlbeleibter hervor. Auch weiß ich von einer Anzahl eigener Klienten, welche wahrhaft erschreckend üppige Berliner Diners bei möglichster Enthaltsamkeit von Mehligem, Süßem und Fettem ungestraft mitmachen zu können geglaubt, daß sie am Ende der Wintercampagne verschiedene Kilos ihrem Fettpolster zugelegt hatten.

Ganz kurz kann ich mich über die Rolle fassen, welche die Getränke als Bestandteile der Entfettungskuren spielen. Die berüchtigten Schmeerbäuche der Restaurateure, Brauer, der treuesten Teilnehmer an studentischen Gelagen und landesüblichen Biertischen erweisen genugsam den bedenklichen Einfluß, welchen der Alkohol als Förderer der Korpulenz übt. Beim Bier mag immerhin der Gehalt von Kohlehydraten, vielleicht auch die Menge der Flüssigkeit außerdem Eigenwirkungen ausprägen. Verlangt doch das Oertelsche und Schweningersche System eine bedeutende Einschränkung der Flüssigkeitsmenge als solcher, zumal während der Mahlzeiten. Es fehlt freilich anderseits nicht an gewichtigen Stimmen, welche gegen die Wasserentziehungskuren bei Fettleibigen Bedenken haben, ja sogar reichlichem Genuß alkoholfreier Getränke das Wort reden. Hier liegen noch ungelöste Widersprüche; denn beide Parteien verfügen über ihre Erfolge. Unter allen Umständen erscheint uns aber der wohlbegründete Ausspruch von Prof. Immermann beherzigenswert, daß eine Durstkur schließlich auf das Gleiche wie eine schwächende Hungerkur hinauskommt.

Ich vermag das Kapitel der diätetischen Behandlung der krankhaften Korpulenz nicht zu schließen, ohne der mitunter maßlosen Uebertreibungen in der ärztlichen Verordnung zu gedenken. Sie haben nicht selten Schlimmeres im Gefolge als die Excesse der Kranken selbst. Wer sich der nötigen Mäßigung im Essen und Trinken überhaupt befleißigt, fährt bei kleinen Uebertretnngen auch in Bezug auf das „absolut Verbotene“ besser als der Völler im Erlaubten. Durch wachsende Erfahrung belehrt, haben wir immer mehr die rigorös einseitigen und reichliche Abwechslung ausschließenden Speiseregulative fürchten und meiden gelernt, wahrlich nicht zum Schaden der von uns Beratenen.

Eine kaum minder wichtige Stellung als die Diätetik nimmt unter den entfettenden Maßnahmen die körperliche Bewegung, d. i. die Muskelarbeit, ein. Daß sie in hohem Maße geeignet ist, Fett zu zersetzen, zu zerstören, darf nicht mehr als zweifelhaft gelten. Auch hier erfüllen wir eine „ursächliche Anzeige“. Drastisch genug wird sie illustriert durch das zweifelhafte Glück, das Mutter Natur zahlreichen Gelähmten und Herzkranken nach vorangegangener Magerkeit durch Gewährung der vordem so schmerzlich ersehnten Leibesfülle spendet. Wer von den Körpergewichtsverlustzahlen Kenntnis nimmt, welche Märsche, kraftvolle gewerbliche Hantierungen, Turnübungen, Reiten, Rudern zu liefern vermögen, der neueren Sporte des Bergsteigens und Radfahrens nicht zu vergessen, versteht es ohne weiteres, daß das „Oerteln“ und „Schweningern“ auf den Faktor der Muskelarbeit besonderen Wert legt. Schon die rastlose Ausübung eines „anstrengenden“ Berufs vermag Erkleckliches zu leisten. Ich kenne Kollegen, deren vorwiegend in den höheren Stockwerken der Berliner Häuser bethätigte Praxis an sich beträchtliche Entfettungswerte alljährlich zu Wege bringt, die leider im Seebade wieder größtenteils kompensiert werden. Ein bekannter Berliner Tanzlehrer verliert jedesmal in der Arbeitssaison 131/2 Kilogramm, welche die Sommerruhe wieder getreulich einbringt. Daß an den mitunter enormen Verlusten an Körpergewicht, welche namentlich der Alpen- und Radfahrsport zu Wege bringt, die Schweißabsonderung wesentlichen Anteil hat, darf nicht geleugnet werden. Aber lediglich um Entwässerungsmethoden, wie sie beispielsweise die noch vielfach gegen unser Leiden empfohlenen Dampfbäder und ähnliche Prozeduren darstellen, handelt es sich hier nimmermehr.

Endlich noch ein Wort über die Bedeutung der Badekuren bei Fettleibigkeit. Daß nicht wenige Kurorte, obenan Marienbad und Karlsbad, glänzende Erfolge aufweisen, selbst da, wo daheim kein Mittel angeschlagen – wer wollte es leugnen? Aber die im Publikum noch immer festgewurzelte Anschauung, daß eigenartige, „specifische“ Wirkungen den chemischen Bestandteilen der Quellen zukommen, trifft, was die Fettleibigkeit anlangt, nicht zu. Denkende und vorurteilsfreie Badeärzte räumen es selbst offen ein, daß die mitunter erstaunlichen Resultate eine Folge mannigfacher Angriffe darstellen, welche vereint auf den Fettreichtum des Körpers einwirken. Fettverminderung durch eine geeignete Diät im Sinne unsrer vorstehenden Erörterungen, durch Muskelarbeit („Terrainkuren“), durch Steigerung der Wasserausscheidung durch Darm und Nieren („alkalisch-salinische“ bezw. Glaubersalzquellen) und manches andere kommt da in Betracht. Ob daneben noch ein gewisses unbekanntes Etwas, an dessen Existenz noch hier und da zäh festgehalten wird, eine Rolle spielt, wird sich voraussichtlich im Laufe der nächsten Jahrzehnte weder beweisen noch widerlegen lassen.

Gegenüber den im Vorstehenden erörterten verhältnismäßig festgefügten Systemen hat zu keiner Zeit eine medizinische Behandlung im engeren Sinne des Worts, das ist eine medikamentöse Therapie der Fettleibigkeit, festen Fuß gefaßt. Selbst die mit gewissen rationellen Grundlagen ausgestatteten Jod- und Pilokarpinkuren – bei letzteren wird durch Einspritzung des Arzneikörpers unter die Haut eine lebhafte Entwässerung des Körpers auf dem Wege der Schweißabsonderung und des Speichelflusses erzielt – sind im wesentlichen verlassen worden. Waren doch beide Medikamente Gifte, deren alltägliche Einverleibung der Organismus unmöglich für lange Zeit ohne Schaden ertragen konnte.

So blieb die nimmer ruhende Sehnsucht der Träger unseres Leidens nach einem Mittel, das nach Art eines relativ unschädlichen Medikamentes die Entfettung besorgte, ohne die lästigen Beigaben besonderer Diätbeschränkung, körperlicher Anstrengung und teurer Badereisen, unbefriedigt – bis die „neue Aera“ der Schilddrüsenfütterung anbrach.

Bei der weitgehenden Erregung der Gemüter über die Entdeckung, welcher gediegenste wissenschaftliche Grundlagen nicht abzusprechen sind, lohnt es sich wohl, mit einigen Worten der auf ein kurzes aber kraftvolles Leben zurückblickenden Entwicklung der Lehre zu gedenken. Gilt sie doch mit Recht als das wichtigste Glied in der Reihe der modernen sogenannten Gewebsfastkuren, bezw. der mit Organextrakten geübten Heilmethoden.[2]

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0462.jpg&oldid=- (Version vom 25.7.2022)
  1. Die Liebenswürdigkeit der Leserinnen wird mich vor dem Argwohn bewahren, als bezweckte ich Angriffe auf das schöne Geschlecht. Allerdings steuern die Frauen zur großen Schar der Fettleibigen das weitaus überwiegende Kontingent bei. Ein Spaziergang in Marienbad, an den Badeanstalten der Ost- und Nordsee oder des Lidos erweist das sofort. Und trotzdem liegt die Schuld mehr bei den männlichen Kolossen als den weiblichen. Zur Ehrenrettung der Damen hat es bereits Prof. Immermann ausgesprochen, daß der natürliche Scharfsinn des Publikums selten irre geht, wenn es dem fettleibigen Mann ohne weiteres den Ruf eines unmäßigen Lebenswandels anheftet, beim korpulenten Weib mehr an die individuelle Anlage zur Krankheit glaubt. D. Verf.     
  2. Vergl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1894, S. 654.