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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Die Bekämpfung der Fettleibigkeit.

Von Prof. Paul Fürbringer in Berlin.

Nur wenige Heilmethoden, galten sie nur annähernd häufigen und wichtigen Krankheitsformen, haben sich eingeführt oder sind zu Grabe getragen worden, ohne im Publikum Erregung hervorzurufen. Der Reiz und die Macht der Neuheit ist es im Verein mit den durch die Erfahrung festgelegten Mängeln der früheren Methoden, die selbstverständlich jeder neuen noch abgehen, was die Gemüter in erster Instanz erregt und – seien wir offen – auch die Mehrzahl der Aerzte von heutzutage mit sich fortreißt. Allein nur selten pflegt unsere schnelllebige, kritikvolle Zeit lange das wahre Resultat uns vorzuenthalten. Gar bald hat die Massenarbeit, der Bienenfleiß entschieden, ob uns wirkliche Segnungen zu teil geworden oder eine neue schmerzliche Enttäuschung beschieden gewesen, die uns schnell auf den Rückweg zur bewährteren alten Methode geleitet. Oder es kommt ein Kompromiß zustande: die Vorzüge des neuen Verfahrens verquicken sich mit jenen des früheren zu höherer Vollkommenheit.

Solche Erwägungen treffen so recht für die neueste Gestaltung des Kampfes gegen die Fettleibigkeit zu. In das festgefügte Bollwerk des bisherigen diätetisch-hygieinischen Kurverfahrens ist – fast über Nacht – eine vordem unbekannte Macht eingebrochen, die Schilddrüsenfütterung, und sie hat die Frage nach der Art der Wandlung der Entfettungskuren aktuell gemacht. Noch kennt niemand die Antwort, obwohl es bereits an Parteiungen in ärztlichen wie in Laienkreisen nicht fehlt, welche durch mehr oder weniger bestimmte Stellungnahme das Ziel weit hinter sich gelassen haben.

Unter solchen Umständen wird es vielleicht willkommen sein, wenn eine unbefangene Erörterung des heutigen Standes der einschlägigen Lehre darlegt, in welchem Stadium die Lösung der beregten Frage sich augenblicklich befindet. Gern entspreche ich deshalb der Aufforderung der Redaktion der „Gartenlaube“, das Thema in gemeinverständlicher Form ihren Lesern vorzuführen. Ich vermag das nicht, ohne in gedrängter Darlegung dessen zu gedenken, was ärztliche Erfahrung bis zur Proklamation der neuen Kur auf unserm Gebiete als wahre Errungenschaft gezeitigt hat.

Vorher noch eine kurze Begriffsbestimmung unserer Krankheit. Man sollte es bei der sich jedem Auge aufdrängenden Signatur der Fettleibigkeit nicht glauben, wie wenig hier das Urteil des Publikums dem ärztlichen oft entspricht. Wir haben ungezählte kraftvolle, muskelstarke Klienten beraten, die sich dem Schicksal, das ihnen eine beneidenswerte Harmonie der Körperformen ohne Gesundheitsstörung verliehen, wenig dankbar erwiesen und – meist beeinflußt durch unzweckmäßige Lektüre – der hypochondrischen Wahnidee, an Fettsucht zu leiden, zum Opfer gefallen waren. Nicht selten trug auch eine uns unerklärliche Eitelkeit die Schuld. Den Gegensatz bildeten in starker Minderzahl solche wirklich Fettleibige, welche die Störungen ihres Wohlbefindens auf alles andere, nur nicht auf ihre krankhafte Korpulenz bezogen. Der ärztliche Standpunkt erkennt nur die abnorme, die krankhafte Fettanbildung im Körper als „Fettleibigkeit“ an, unbekümmert um Rücksichten des individuellen „ästhetischen“ Geschmacks. Es muß also das dauernde Mißverhältnis zwischen Fettverbrauch und Fettproduktion bereits zu Gesundheitsstörungen geführt haben. Selbstverständlich sind hier die Grenzen, auch für den Arzt, nicht immer leicht zu ziehen und um so schwerer, je weniger scharf sich der Begriff der Krankheit von jenem des physiologischen Verhaltens abtrennen läßt. Besondere Berücksichtigung verdienen unseres Erachtens endlich jene wirklich leidenden Patienten, welche ihre Beschwerden mit Unrecht auf ihren guten Ernährungszustand beziehen, während der Arzt ganz andere Quellen ausfindig macht. So haben wir bei Dutzenden, welche ungebührlich lange Zeit als lediglich fettkrank galten, als wahre Ursachen der Krankheitssymptome, zum Teil gegen eigenes ursprüngliches Erwarten, schwere Zuckerkrankheit, Brightsche Nierenentartung, Herzklappenfehler, umfängliche Geschwulstbildungen an inneren Organen u. dergl. feststellen können. In solchen Fällen hört Grübeln über Fettleibigkeit auf, auch dann, wenn ein gewisser ursächlicher Zusammenhang derselben mit dem Grundleiden sich nicht ableugnen läßt. Und nun zur Sache, zur rationellen Behandlung der wahren Fettleibigkeit, wie sie ärztliches Mühen bis zur Neuzeit als fast klassische Methode geschaffen und anerkannt hat! Sie ist, wie schon erwähnt, keine medikamentöse, sondern eine diätetische und hygieinische; sie entspricht vorwiegend, wie der ärztliche Sprachgebrauch sich ausdrückt, der ursächlichen Anzeige, d. h. dem durch die Ursachen der Krankheit bestimmten Heilplan. Schon dieser Umstand sichert ihren rationellen Charakter.

Obenan steht selbstverständlich, da die vornehmste Ursache in einer im Verhältnis zum Verbrauch zu reichlichen Einnahme von Nährmitteln gegeben ist, die Beschränkung der Nahrungszufuhr. Aufgabe des Arztes ist es, diese Einschränkung so einzurichten, daß sein Patient dabei eine lästige oder gar bedenkliche Schwächung nicht erfährt und auch keine allzugroßen Qualen aus Anlaß der Nichtstillung seines Appetits erduldet. Hier vereitelt oft genug die menschliche Schwäche die ärztlichen Bemühungen. Die unbezähmbare Gewalt der Verführung, welche die Lockungen der Tafel ausüben, schlägt einen beängstigend großen Prozentsatz der Menschen in ihren Bann und bereitet ihnen ein vorzeitiges, oft genug qualvolles Ende. So war es seit langen Zeiten, so wird es sein und in Zukunft bleiben. „Ich kann mich nicht beherrschen.“ Wie oft ist dieses Geständnis an unser Ohr geschlagen. Mit dieser unbändigen, selbst durch die schlimmsten Erfahrungen nicht zu beschwichtigenden Leidenschaft vermochte unser großer Goethe vor mehr als hundert Jahren nur den „unwiderstehlichen Reiz zum politischen Diskurs“ zu vergleichen. Fast noch schlimmer steht es mit denen, welche den Arzt aus Unkenntnis oder geflissentlich über ihre Haltung zu Speise und Trank täuschen. Unvergeßlich ist mir eine Konsultation, in welcher eine weither zugereiste kolossale Dame auf meine Frage, ob sie zu den starken Esserinnen zähle, treuherzig „Wie ein Vögelchen!“ antwortete, während der Ehegatte mir ins andere Ohr ein überzeugungstreues „Herr Doktor, sie – frißt!“ leise zuraunte. Die hochnotpeinliche Untersuchung ergab, daß die Patientin zwar nicht mit Bewußtsein gelogen, ihr Mann aber unzweifelhaft die Wahrheit gesagt hatte. In einem anderen, eine Dame betreffenden Falle wurden beim Herzählen der Bestandteile der alltäglichen Kost reichlich drei Viertel des wahren Wertes unterschlagen, diesmal nicht mit gutem Gewissen.

Es giebt aber in der That, und ich will es gleich hier anfügen, nicht wenige Fettleibige im Sinne unserer Definition, welche wirklich wenig, recht wenig essen, welche sich auch in Hinsicht der Wahl der Speisen mit rührender Gewissenhaftigkeit an die gleich zu erörternden Vorschriften halten und trotzdem weder ihr Fett noch ihre Beschwerden loswerden. Man kann hier geradezu von einer richtigen, oft genug ererbten „Fettsucht“ sprechen. Solch bedauernswerte, nicht selten schon in der Jugend als Riesenkinder imponierende Individuen sind – Verzeihung für den Vergleich! – die Möpse unter den Menschen im Gegensatz zu den Windhunden, welche durch keine Steigerung oder „rationelle“ Gestaltung ihrer Diät ihre trotz sonstiger Gesundheit hochgradige Magerkeit zu bekämpfen vermögen. Also Rasseneigentümlichkeit, an deren brutaler Herrschaft auch die ärztliche Kunst zu Schanden wird.

Nicht so vollkommen einig, wie über die schon durch schlichte Logik geforderte Notwendigkeit der Herabsetzung der Menge der Nahrung, sind die medizinischen Sachverständigen über das Erfordernis bestimmter Veränderungen in der Zusammensetzung der Speisen, obwohl die Physiologen, insbesondere Prof. Voit, gerade hier mit ihren Forschungen höchst wertvolle Grundlagen geschaffen haben. Wir wissen, daß von den fünf auf die Dauer unentbehrlichen Nährstoffen Eiweiß, Fett, Kohlehydraten, d. i. Stärke und Zucker, Salzen, Wasser die drei erstgenannten die Quellen des in unserem Körper abgelagerten Fettes sind. Besonders verfemt sind in dieser Beziehung die Kohlehydrate, weil sie die eigentümliche Rolle spielen, das aus der Nahrung gebildete Fett vor weiterem Zerfall zu schützen. Stärke und Zucker konservieren also das Fett in unserem Körper. Daher das heutzutage so allgemeine ärztliche Verbot größerer Mengen süßer oder mehlreicher Speisen und die oft schlimmen Folgen einer unseligerweise auf Brot, Kartoffeln, insbesondere aber Kuchen und süße Mehlspeisen gerichteten Leidenschaft. Hier fällt mir u. a. eine überaus stattliche Persönlichkeit, leider abermals eine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 460. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0460.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2022)