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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Tanne zu, die einige hundert Schritte weit am Abhang stand, mit sturmzerzaustem Wipfel, aber mit frisch grünenden Aesten.

Von dort hatte man den vollen Ausblick über das Thal und die ganze Umgebung.

Elsa hatte sich auf der kunstlos gezimmerten Bank niedergelassen. Sie war in einen dunklen Regenmantel gehüllt, hatte aber auf den kurzen Weg den Hut nicht mitgenommen. Den Kopf an den Stamm des Baumes gelehnt, blickte sie hinaus in das Nebelwogen, das die ganze Landschaft noch in dichte Schleier hüllte.

Seit vier Wochen war sie Sonnecks Verlobte, allein die junge Braut blickte noch immer so kühl und ernst aus den blauen Augen wie sonst und der herbe Zug um die Lippen war nicht gewichen. Es hatte sich ja freilich auch wenig genug geändert in ihrem Leben, nur daß der Großvater sie nicht mehr so rücksichtslos behandelte und mit seinen Launen quälte, weil ihr Lothar schützend zur Seite stand. Aber dieser war doch immer nur auf Stunden in Burgheim und mußte den äußerst reizbaren Kranken schonen, der keinen Widerspruch vertrug. Sonneck hatte längst eingesehen, daß jetzt, wo ihm noch nicht die Autorität des Gatten zu Gebote stand, jedes tiefere Eingreifen nur eine Reihe von peinlichen und nutzlosen Kämpfen mit dem Professor heraufbeschwören würde, aber er hatte es erreicht, daß die Vermählung schon für Anfang Juli festgesetzt war.

Vermählung! Hochzeit! Der Gedanke, der jede Braut mit heimlicher Glückseligkeit durchschauert, hatte für Elsa kaum eine andere Bedeutung als der Eintritt in einen neuen Kreis von Pflichten. Sie blickte noch immer mit scheuer Bewunderung zu ihrem künftigen Gatten auf, konnte es noch immer nicht fassen, daß der Mann, der durch seine kühnen Forschungsreisen sich Weltruhm errungen, den selbst der ewig grollende, mit der ganzen Welt zerfallene Großvater „Einen von den Besten!“ nannte, gerade sie gewählt hatte, die in ihrer Jugend, in ihrer vollsten Unbekanntschaft mit dem Leben ihm so gar nicht ebenbürtig war. Er freilich sah mit froher Zuversicht in die Zukunft. Was er suchte, war ein stilles häusliches Glück, fernab von der Welt, in deren Kampf und Treiben er so lange gestanden! Jetzt wollte er ausruhen davon an der Seite seines jungen Weibes, im Frieden seines Hauses, und da konnte er keine bessere Gefährtin wählen als das ernste, schweigsame Mädchen, das, in vollster Einsamkeit aufgewachsen, die Welt und ein Leben voll Abwechslung gar nicht vermissen würde.

Noch wenige Wochen, dann war sie sein Weib – und dann ging auch Reinhart Ehrwald, der nur noch der Vermählung seines Freundes beiwohnen und dann nach Berlin reisen wollte! Elsa atmete unwillkürlich auf bei dem Gedanken – die Nähe dieses Mannes lag nun einmal auf ihr wie ein Schatten. Er hatte zwar nach jenem ersten Besuche, der so kühl verlief, keinen Versuch gemacht, ihr irgendwie näher zu treten. Lothars Bitten, selbst seine leisen Vorwürfe hatten es nicht erreicht, daß seine Braut die seltsame, fast beleidigende Zurückhaltung aufgab, die der stolze, empfindliche Ehrwald nur zu gut fühlte.

Es war das erste Mal, daß Elsa einem Wunsche ihres Verlobten widerstrebte, aber sie wehrte sich dabei halb unbewußt gegen die quälende Empfindung, die immer wieder aufwachte unter jenem Blick und jener Stimme, gegen die undeutlichen, verworrenen Bilder und Gestalten, welche sein Erscheinen in ihr wachgerufen, die nach Klarheit zu ringen schienen und doch nicht klar werden wollten. Sie waren nicht zur Ruhe gekommen seitdem und lasteten wie ein schwerer Traum auf ihr, den man fühlt und aus dem man doch nicht erwachen kann.

Der Nebel geriet jetzt in eine unruhig wallende Bewegung. Das öde gestaltlose Grau wurde lichter, es ballte sich zusammen in einzelnen Wolkenzügen und wie durch einen Schleier blickte einer der hohen eisumstarrten Gipfel hindurch, nur auf eine Minute, dann flossen Nebel und Wolken wieder darüber hin. Durch die tiefe Morgenstille klang das Tosen des Wildbachs, der, vom Gewitterregen geschwellt, dort drüben in der Schlucht niederstürzte. Man sah ihn nicht, denn die Schlucht war noch dicht verhüllt, aber sein Brausen klang fern und geheimnisvoll herüber.

„Guten Morgen, mein gnädiges Fräulein!“ sagte eine Stimme in unmittelbarer Nähe des jungen Mädchens. „Sie sind schon wach und im Freien? Ich glaubte, der Erste heute morgen zu sein.“

Elsa war leicht zusammengefahren beim Klang dieser Stimme; sie wandte sich um und entgegnete dann ruhig: „Ich wollte den Sonnenaufgang erwarten. Der Nebel fällt gewöhnlich um diese Jahreszeit, sobald die ersten Strahlen durchbrechen. – Schläft Lothar noch?“

„Er erwachte, als ich aufbrach, ich habe ihn aber zu einer längeren Morgenruhe bestimmt. Er soll sich ja noch schonen und der gestrige Aufstieg war schon genug für die Kräfte eines eben erst Genesenen. Der feuchte Nebelmorgen könnte ihm schädlich werden.“

„Das fürchtete ich auch, deshalb verriet ich nichts von meinem Wunsche, sondern ging allein.“

„Ich kam in der gleichen Absicht, der Nebel scheint in der That zu weichen – warten wir es ab!“ Er richtete die Augen forschend in die Höhe.

Elsa schien nicht gerade angenehm berührt von diesem Zusammentreffen. Sie erwiderte nichts, aber in ihrem Gesichte erschien wieder jener Ausdruck verhaltener Ablehnung, und das gerade reizte ihn, zu bleiben. Er machte keinen Versuch, die Unterhaltung fortzusetzen, er ging aber auch nicht, sondern lehnte sich mit verschränkten Armen an den Stamm des Baumes. Dabei senkte er den Blick mit gespanntem Ausdruck auf sie.

Wie konnte Lothar dies Mädchen nur für scheu und willenlos halten! Sah er denn nicht jenen Zug energischer Willenskraft, der sich einst schon in dem Kinde verriet und der jetzt wohl verschleiert, aber nicht verschwunden war? Und war es etwa Scheu gewesen, mit der das junge Mädchen einem Unbekannten standhielt, der um Mitternacht in ihren Garten eindrang, und ihm dann so verächtlich den Weg über die Mauer wies? Dem Verlobten, dem künftigen Gatten war es nicht gelungen, den Bann zu brechen, der wie ein eisiger Hauch über dem ganzen Wesen seiner jungen Braut lag. Sollte es deshalb unmöglich sein? Es kam auf die Probe an!

Elsa hatte sich wieder in ihre gewohnte Schweigsamkeit gehüllt, aber sie mußte wohl den Blick fühlen, der so unverwandt auf ihr ruhte, denn sie wandte jetzt den Kopf und sagte: „Ein solcher Nebelmorgen ist Ihnen wohl etwas sehr Ungewohntes?“

„Ungewohnt – ja, aber nicht unwillkommen,“ entgegnete Reinhart, der in vollen Zügen die feuchte Nebelluft einatmete. „Wie oft habe ich mich unter der glühenden afrikanischen Sonne gesehnt nach Sturm und Wolken, nach Eis und Schnee, gesehnt wie ein Verschmachtender nach dem frischen Trunke. Es gab Stunden, wo ich all die Palmenwälder mit ihrer ganzen tropischen Herrlichkeit hingegeben hätte für eine einzige schneebedeckte Tanne in ihrer herben Pracht!“

Das junge Mädchen streifte ihn mit einem halb verwunderten Blicke bei diesem Ausbruch leidenschaftlicher Empfindung.

„Lothar behauptet doch, Sie hätten das Heimweh nie gekannt.“

„Ja, das glaubt Lothar. Ich habe es auch geglaubt und habe es doch mit mir herumgetragen jahrelang. Das liegt im Blut wie ein schleichendes Fieber, man weiß es nur nicht oder will es nicht wissen, und dann plötzlich bricht es aus, mit wilder verzweifelter Sehnsucht, und quält und martert Tag und Nacht und reißt uns gewaltsam zurück zu den alten Stätten. Heimweh! Man sagt, es giebt Menschen, die daran sterben – ich begreife das. Haben Sie es nie gekannt?“

„Ich? Ich bin ja in Deutschland geboren.“

„Ich weiß, aber Sie haben es doch schon in den ersten Lebensjahren verlassen und Ihre ganze Kindheit in Egypten verlebt. Als Sie so ganz plötzlich in den kalten Norden versetzt wurden, haben Sie da nie Heimweh empfunden nach dem Sonnenlande?“

„Möglich! Ich weiß nichts mehr davon.“

Das klang wieder sehr kühl und abweisend, und doch war das Gesicht des jungen Mädchens nachdenklich und träumerisch geworden, während sie in die feuchten Dunstwolken schaute, die noch immer auf der Matte wallten und jetzt zu zerrinnen und zu zerfließen begannen. Sie hingen sich als schwere Tropfen an die Zweige der Tannen und sanken als leichter weißer Reif zu Boden. Auch die dichte Nebelwand, die dort über dem Thale stand, begann zu weichen. Langsam sank sie tiefer und tiefer, langsam tauchten die Bergeshäupter daraus empor, aber sie standen nicht mehr kalt und weiß im grauen Morgenlicht, es wob sich wie ein rosiger Hauch von Gipfel zu Gipfel – das aufdämmernde Morgenrot.

„Sie hatten damals noch keine Vorstellung von der Alpenwelt,“ hob Reinhart wieder an. „Ich erzählte Ihnen einmal von den hohen Bergen, die bis in den Himmel ragen, und auf deren Häuptern Eis und Schnee liegen, von den dunklen Wäldern, den stürzenden Wassern und den Stürmen, die über Berg und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0266.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)