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überraschende Erfolge. In die preußische Geschichte zurückgreifend, schuf er das Drama „Vater und Söhne“, welches von den schmachvollen Niederlagen des Jahres 1807 bis zur glänzenden Erhebung von 1813, einen längeren Zwischenraum überspringend, geschichtliche Tableaus vorführt, und dann das Drama „Der Mennonit“, ein Werk von trefflichem dramatischen Aufbau, das in der Zeit Ferdinands von Schill spielt und den Kampf zwischen Vaterlandsgefühl und den Glaubenssätzen einer religiösen Sekte darstellt. Einen viel durchschlagenderen Erfolg errang Wildenbruch mit seinen Hohenzollerndramen, besonders mit den „Quitzows“ und dem „Neuen Herrn“. Das erstere erlebte eine selten hohe Zahl von Aufführungen an der Berliner Hofbühne, wozu neben dem schönen Aufschwung einzelner dichterischer Scenen auch der Witz der Berliner Lokalposse beitrug, der es sich hier im mittelalterlichen Kostüm wohl sein ließ. In dem „Neuen Herrn“ interessiert der durchgreifende Charakter des jungen Kurfürsten. Einen großen Erfolg errang Wildenbruch neuerdings mit seinem deutschen Kaiserdrama, das den Kampf zwischen Heinrich IV. und Gregor zum Inhalt hat. Ernst Wichert hat in seinem am „Berliner Theater“ aufgeführten Schauspiel „Das Recht des Stärkeren“ den Großen Kurfürsten in seinem Kampfe mit den ostpreußischen Ständen zum Helden gemacht, auf Grundlage seines großen geschichtlichen Romans gleichen Stoffes. Im volkstümlichen Stil hat Martin Greif, ein stimmungsvoller Lyriker, der mit Knappheit des Ausdrucks Innigkeit der Empfindung vereinigt und seine historischen Stoffe mit Vorliebe der bayrischen Geschichte entnimmt, verschiedene Dramen gedichtet, die sich von der Bühne herab beifälliger Aufnahme erfreuten, es seien genannt seine „Agnes Bernauer“ und „Ludwig der Bayer“.

Das patriotische Schauspiel hat eine volkstümliche Grundlage, bewegt sich aber meistens mit idealem Schwung auf geschichtlichem Boden. Volkstümlich auch in ihrer Tendenz waren die Bauernstücke, welche das Volk, wie es leibt und lebt, selbst mit den Eigentümlichkeiten seines Dialektes darstellen in ernsten und heitern Bildern, in tragischer und humoristischer Beleuchtung. Der zu früh verstorbene Oesterreicher Ludwig Anzengruber, dessen Stücke sich immer mehr die norddeutschen Bühnen erobern, war auf diesem Gebiete ein glänzendes Vorbild: in tiefgehende Risse im Volksleben, gesellschaftliche Schäden wußte er eine scharfe dramatische Sonde einzuführen; markig war seine Darstellungsweise und er hat einige Gestalten geschaffen, wie den Wurzelsepp, welche bevorzugte Aufgaben für Charakterdarsteller bleiben. Wenn einzelne dieser Dramen einen tiefen tragischen Grundton hatten, so sind die oberbayrischen Dramen von Ludwig Ganghofer weniger dunkel gehalten und neigen sich mehr zu versöhnlichem Abschluß, obschon es an ernsten Konflikten in denselben keineswegs fehlt. Sein „Herrgottschnitzer von Oberammergau“, „Der Prozeßhansl“, „Der Geigenmacher von Mittenwald“, die alle drei von ihm gemeinsam mit dem Schauspieler Hans Neuert geschaffen wurden, sind durch die „Münchener“ unter Hofpauers Leitung über die Bühnen fast aller größeren deutschen Städte geführt worden; es weht frische Alpenluft in diesen Stücken, und die Hauptscenen haben dramatisches Leben. Dies gilt auch von Ganghofers anderen Bauerndramen, die mit seinen lebensvollen warmblütigen Romanen und Novellen aus der Hochgebirgswelt den Vorzug teilen, treu nach der Wirklichkeit gestaltet zu sein. In Norddeutschland hat man gleichzeitig den Fritz Reuterschen Humor theatralisch mundgerecht zu machen gesucht und Reuters Inspektor Bräsig und andere mecklenburgische Volksoriginale spazieren jetzt über die weltbedeutenden Bretter.

Wenn diese volkstümliche Dramatik schon ganz auf dem modernen realistischen Boden steht, aber innerhalb beschränkter Volkskreise, so kamen von der anderen Seite kraftgeniale Dramatiker, welche die gesellschaftlichen Zustände in grelle Beleuchtung rückten und sich auch in der Mitte des realen Lebens bewegten, obschon sie demselben soviel Romantik wie möglich abzugewinnen suchten. Der hervorragendste derselben ist Richard Voß, dessen frühere Werke, wie die „Patrizierin“, den Pulsschlag eines echten dichterischen Talentes und einen leidenschaftlichen Zug zeigten. Später wählte er Stoffe aus dem modernen Leben, dem Zeitgeschmack folgend, der unter der Herrschaft der französischen Dramatik stand. Es ist etwas von Hebbel und etwas von Victor Hugo in ihm; auch hat er Eigenschaften, die an die beiden Alexander Dumas erinnern. Gern wählt er Stoffe, die sensationeller Wirkungen sicher sind; er liebt Konflikte, in denen das Tragische und das Kriminelle ineinandergreifen. Besonders gilt dies von seinen neueren dramatischen Dichtungen wie „Alexandra“, „Eva“, „Schuldig“. Langjähriger Aufenthalt in Italien legt ihm auch Stoffe nahe, welche den sozialen Gegensätzen des modernen italienischen Lebens entnommen sind, wie „Pater Modestus“, „Malaria“. Arthur Fitger zeigt besonders in den „Rosen von Tyburn“ Geistesverwandtschaft mit Richard Voß und der französischen Romantik; die sich am Schluß auf der Bühne heranschleichende Pest ist einer der gewagtesten Triumphe des neuen Naturalismus. „Die Hexe“, das beste Werk Fitgers, behandelt mit dramatischer Steigerung den Konflikt einer Freidenkerin mit der überlieferten Satzung und mit der abergläubischen Menge; trotz der geschichtlichen Einkleidung bewegen sich hier die Gegensätze auf modernem geistigen Boden.

Inzwischen war die Entwicklung unserer Dramatik noch durch eine andere ausländische Größe bestimmt worden, die eine fanatische Anhängerschaft fand: der Norweger Henrik Ibsen, von vielen litterarischen Wortführern als Reformator der ganzen dramatischen Dichtung ausgerufen, machte bei uns Schule. Ein kritischer Kopf, in dem zugleich eine etwas nebelhafte Romantik spukt, besitzt er Gestaltungsgabe und theatralisches Geschick und übt damit oft verblüffende, aber wenig stichhaltige Wirkungen aus. In der gährenden Unklarheit seiner Sozialkritik suchte man eine wunderbare Tiefe und seine wortkarge Knappheit galt zugleich für die Runensprache geheimnisvoller Offenbarung wie für ein Muster des dramatischen Tons und Stils. Scharfeinschneidend in seinen satirischen Gesellschaftsbildern, nicht ohne Reiz in seiner oft traumhaften Seelenmalerei, ein Meister in der Zeichnung krankhafter Frauencharaktere, die im Grunde alle nicht recht wissen, was sie wollen, aufregend durch seine Auffassung moderner Vererbungstheorien, drang er allmählich ruckweise auf den deutschen Bühnen vor, eroberte sich immer mehr Terrain und wirkte vor allem bestimmend auf jüngere Talente.

Die gegenwärtige dramatische Dichtung unsrer „Neuesten“ baut sich aus diesen Elementen auf und das Ungünstigste dabei ist, daß sie soviel Fremdländisches in sich aufnimmt und mit sich verschmelzen muß. Uebrigens ist sie nicht nur durch den Einfluß von außen gezeitigt, sondern nachweisbar sind ihre Zusammenhänge mit den Richtungen und Werken älterer deutscher Dichter. So ist z. B. Hebbels „Maria Magdalena“ so jüngstdeutsch in Bezug auf reale Lebenswahrheit und die Gewagtheit des aufgestellten sittlichen Problems wie nur irgend ein Erzeugnis der neuesten Schule. Es liegt gar keine Veranlassung vor, von einer wirklichen „Revolution“ in der Litteratur zu sprechen, und unter eine bestimmte Fahne läßt sich nur ein mühselig zusammengebrachtes Häuflein ordnen: so verschiedenartig sind die jüngeren Talente. Auch hier ist für unsere Auswahl ihre Einbürgerung auf der Bühne bestimmend.

Das bedeutendste Talent unter den jüngeren besitzt ohne Frage Hermann Sudermann; er hat den echten dramatischen Wurf, den hinreißenden Zug der Handlung, einen belebten markigen Dialog. In Bezug auf Beherrschung der dramatischen Form, auf fesselnde Scenenführung hat er von den Meistern der modernen französischen Bühne gelernt; in seiner Hinneigung zur scharfen Beleuchtung sozialer Mißstände zeigt sich Ibsenscher Einfluß; seine Stoffe aber wählte er mit voller Selbständigkeit aus dem deutschen Leben der Gegenwart. Er vereinigt in sich die Gabe, mit großer Lebenswahrheit Kreise und Typen des modernen Großstadtlebens zu schildern, mit dem Trieb, die sittlichen Schäden unserer sozialen Verhältnisse bis an die Wurzel bloßzulegen, wodurch er sich vielfache Anfechtung zuzog. In seiner Kritik ist er aber voll Geist und Witz und neben der Darstellung von Entartung und Elend finden sich in seinen Dramen immer auch Personen und Charakterzüge, die uns sympathisch berühren. Wie er die inneren Konflikte aus den Gegensätzen, die unsere moderne Gesellschaft zerklüften, mit Vorliebe herleitet, so liebt er es, diese Gegensätze scenisch auch in ihrem Aeußern mit realistischer Deutlichkeit anschaulich zu machen. So stellte er in der „Ehre“ dem üppigen Leben im „Vorderhaus“ das Bild proletarischer Verkommenheit im „Hinterhaus“ gegenüber; so bricht in der „Heimat“ die Heldin mit all den Ansprüchen eines freizügigen Künstlerlebens in die Idylle einer patriarchalischen Lebensanschauung ein. Auch Sudermanns neueste Dramen „Die Schmetterlingsschlacht“ und „Das Glück im Winkel“ mit ihren versöhnlicheren Schlüssen haben eine verwandte Struktur. Er hat mit seinen trotz mannigfachen Widerspruchs nicht zu leugnenden starken Erfolgen nicht nur die deutschen, sondern auch die ausländischen Bühnen erobert; von allen jüngeren Schriftstellern besitzt er die größte dramatische Energie.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0171.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)