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zu einem innerlich sittlichen. „Sie spinnen so eifrig, als kaum eine Taglöhnerin spinnt; aber ihre Seelen taglöhnern nicht“, heißt es von Gertrud und ihren Kindern. Dieser große Gedanke, daß man mitten in der schweren Arbeit des Tages vor allem müsse Mensch bleiben können, das ist wirklich der Schlüssel zur Lösung der sozialen Frage, das ist ihr sittliches Postulat!

Wie ganz erfüllt aber Pestalozzi von sozialen Ideen war, das zeigt sein Buch „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“, in dem er seine Gedanken über Eigentum und Erwerb, über Regierung und Recht, über Staat und Religion, über Freiheit und Gesellschaft mit aller Kühnheit entwickelt hat. „Gehört,“ so fragt er hier, „unseren Mitmenschen, die mit gleichen Naturrechten wie wir geboren und den Besitzern der Erde mit gleichen Ansprüchen ins Angesicht sehen, gehört diesen Staatsbürgern, die jede Last der gesellschaftlichen Vereinigung siebenfach tragen, keine ihre Natur befriedigende Stellung in unserer Mitte? Fürchtet euch nicht, Besitzer der Erde, es ist hierin wahrlich mehr um Grundsätze als um Almosen, mehr um Rechtsgefühl als um Spitäler, mehr um Selbständigkeit als um Gnaden zu thun!“ Dabei klingt vieles revolutionär, aber stets handelt es sich um eine Revolution in den Ideen und Grundsätzen, um die sittliche Revolution des Menschen als Grundlage einer sozialen Reform der Einrichtungen. Wir aber begreifen nun, warum ihn damals so wenige verstanden und das ganze Buch für einen „Gallimathias“ angesehen wurde. Es war die Stimme eines Propheten, freilich damals noch eines Propheten in der Wüste.

Wir wissen aber heute allerdings auch, daß die Verhältnisse, aus denen heraus Pestalozzi redete, nicht genau mehr die unsrigen sind: er denkt vor allem an die Hausindustrie und daher kann er mitten in der Arbeit die Wohnstube zum Ausgangspunkt und die Mutter zur Mittlerin der neuen sozialen Erziehung machen. Heute ist die Hausindustrie fast völlig erdrückt von den Riesenarmen der Maschinenarbeit in den Fabriken. Aber sind dadurch Ziel und Aufgabe andere geworden? Oder gilt es nicht vielmehr noch jetzt und immer mehr jetzt, aus „Händen“ Menschen zu bilden und sie aufhören zu machen, auch geistig zu tagelöhnern? Und ist es nicht erst recht unsere Pflicht, die Mütter wieder zu Müttern werden zu lassen und sie ihrer Familie d. h. ihrer nächsten und höchsten Aufgabe zurückzugeben? Nur die Mittel werden heute vielfach andere, kompliziertere sein müssen. Gewiß würde Pestalozzi in vielen Veranstaltungen unserer Tage auf dem Gebiet der Gesetzgebung sowohl als der Erziehung Verwirklichungen seiner Ideale und Forderungen freudig begrüßen; aber er würde anderseits auch finden, daß noch immer zu viel Tagelöhnersinn und zu wenig Liebe in der Welt sei.“ Und in der Pädagogik würde er – darin hatte schon Fichte mit seinem Vorwurf recht – sich nicht darauf beschränken dürfen, nur den „äußerst vernachlässigten Kindern aus dem Volke die notdürftigste Hilfe zu leisten“, sondern er müßte auch oben Hand anlegen, weil auch in den beiden oberen Stockwerken viel zu einseitig nur an Berufsbildung und viel zu wenig an Menschenbildung gedacht wird und weil das Ideal der allgemeinen Elementarbildung, der wahrhaft allgemeinen Volksschule als einer Schule für alle, auch heute noch nicht verwirklicht ist.

Fraglos sind wir über Pestalozzi hinausgeschritten in der Technik der Volksschulpädagogik; da ist manches von dem, was er ersonnen hat mit heißem Bemühen, inzwischen veraltet. Obgleich auch hier zweierlei noch immer von ihm zu lernen ist: derselbe Mann, der sich hinreißen ließ, zu sagen, er wolle die Erziehung „mechanisieren“, hat allem Mechanischen entgegen die Liebe als den Grund und Kern aller Erziehung erkannt; und daß die Aufgabe der Volksbildung zu den schwierigsten und wichtigsten gehört, das wird von unserem heutigen Staat weder durch genügende finanzielle Aufwendungen, noch durch ausreichende Fürsorge für eine fortschreitende Hebung und Besserung der Lehrerbildung anerkannt; in beidem standen die leitenden Männer Preußens vor achtzig und mehr Jahren unter dem mächtigen Einfluß Pestalozzis höher als die meisten Regierenden von heute. Nicht hinausgeschritten aber sind wir, sondern eben jetzt wachsen wir langsam erst hinein und heran an das Centrum der Pestalozzischen Idee von einer wahrhaft sozialen und humanen Aufgabe der Erziehung. Wir haben sie erfaßt, aber noch nicht durchgeführt, überall sind es Forderungen, Ideen, Ideale, in Wirklichkeit aber höchstens erst Anfänge und Versuche.

Und darum ist es kein müßiges Rückwärtssehen und Ausruhen im stolzen Bewußtsein des schon Erreichten, wenn wir am 12. Januar Pestalozzis Andenken feiernd erneuern, sondern ein Gelöbnis mehr und ein ernstes Mahnen. Einst war er uns Deutschen der Mithelfer zur nationalen Erneuerung unseres Volkstums und Staates; dann wurde er der Begründer eines inhaltlich wertvollen und methodisch sich aufbauenden Kinderunterrichts; heute ist er einer der tiefgründigsten Führer bei unserem Bemühen um eine wahrhaft soziale Gestaltung der äußeren und inneren Formen unseres gesellschaftlichen Lebens. Sorgen wir dafür, daß ihn unsere Kinder und Enkel, wenn sie im Jahre 1946 den Tag aufs neue festlich begehen, gerade dafür zu segnen und zu feiern Grund haben!


Vielliebchen

Novelle von Ernst Eckstein.

     (Schluß.)

3.

Während der nächsten Zeit war Marie eifrig damit beschäftigt, an dem Vielliebchen-Geschenk zu arbeiten. Große perlengestickte Brieftaschen waren damals sehr in der Mode. Und da eine Brieftasche ihr eine ganz besonders passende Gabe für einen Gelehrten schien, so war sie gleich am folgenden Morgen in das erste Galanteriewarengeschäft von Glaustädt gewandert, um etwas recht Vornehmes und Apartes für den Mann ihrer Neigung auszuwählen.

Das Wetter war trübe und kalt geworden; aber im Herzen Mariens blühte und leuchtete es wie ein sonniger Maimorgen. Sie hatte sich nämlich nach reiflicher Ueberlegung für einen Plan entschieden … Die Worte, die der Professor in der Geißblattlaube gesprochen, waren ja fast ein halbes Geständnis … Lotichius glich an Scheu und Befangenheit wirklich ein bißchen dem italienischen Dichter: man mußte ihm nachhelfen, so schwer es auch hielt, mit den althergebrachten Anschauungen weiblich-strenger Zurückhaltung brechen zu sollen. Wäre nicht der Rittmeister Scholl dazu gekommen, wer weiß, ob sich nicht alles von selbst gemacht hätte? Die Situation war so günstig und die Stimmung des liebenden Mannes schien so gehoben! Jetzt aber war dieser Augenblick unwiederbringlich versäumt. Da galt es zu handeln, ehe es zu spät ward.

Ganze Nachmittage lang saß Marie in ihrem Stübchen und stickte, bis ihr die Augen schmerzten. Es waren die kleinsten Glasperlen, die es gab, und ein sehr verwickeltes, schwieriges Muster; aber die fertige Arbeit würde auch eine köstliche Wirkung ausüben. Schlanke lichtgrüne Vergißmeinnichtstauden, die den Vordergrund bildeten, hoben sich mit ihren blauen und blaßroten Kelchen von dem Hintergrund einer verschleierten Landschaft ab. Das Muster war allerdings nur dann vollständig erkennbar, wenn man es weit von dem Auge entfernt hielt. Aber gestickt würde das deutlicher werden. Und auf jeden Fall gab sich das Ganze als ein wunderbar abgetöntes, farbenglitzerndes Mosaik. Für die Rückseite war ein gleichfalls in Perlen zu stickender Streifen mit der Aufschrift: „Guten Morgen, Vielliebchen!“ bestimmt. Unter die Aufschrift kam noch Datum und Jahreszahl. Schon die Mühsamkeit dieser großartigen Perlenarbeit mußte dem teuren Manne verraten, daß die Stickerin ihre sehnende Seele mit einstickte. So beschenkte man nur den Einen, dem man mit jeder Faser des Herzens zu eigen war. Und dann …

Flammende Glut stieg ihr ins Antlitz, wenn sie sich dieses „Dann“, das ihren tollkühnen Plan bedeutete, klar ins Bewußtsein rief. Sie schreckte wohl noch für kurze Momente zurück. Aber auch nur für kurze Momente. Sie wußte ja ganz genau, daß ihr nichts anderes übrig blieb, wenn sie nicht etwa die Freundschaftsdienste Feodors in Anspruch nehmen wollte. Vor Feodor aber schämte sie sich; das wäre ihr noch hundertmal peinlicher und demütigender gewesen … Nein, unter keiner Bedingung!

Feodor, der sich für die Brieftaschenstickerei außerordentlich interessierte, verfolgte mit Genugthuung ihren raschen Fortgang. Doch war er zugleich erstaunt und verstimmt darüber, daß der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0031.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)