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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Er weiß auch sehr wohl, daß Wissen Macht bedeutet. Sobald er es zu etwas gebracht hat, sorgt er dafür, daß seine Kinder etwas lernen. Besonders begabt zeigt er sich für Rechnen, für Mathematik, wissenschaftliche wie praktische. Die Zahl der Armenier auf den europäischen Universitäten wird auf 500 geschätzt, die meisten studieren in Rußland, etwa 100 in Paris, 40 in Deutschland. Die deutsche Sprache lernen sie mit Vorliebe und sprechen sie auch gut, vielleicht weil die Aussprache mit der ihrigen manche Aehnlichkeit hat. Der Drang nach Bildung ist allgemein. In ärmlichen Gebirgsdörfern findet man oft ein Schulgebäude mit fleißigen Schülern, groß und klein, angefüllt.

Kein Wunder denn, daß sie auf allen Gebieten tüchtige Leute, ja ausgezeichnete Köpfe aufzuweisen haben, viele gute Aerzte, gelehrte Geistliche, Astronomen und, obwohl kriegerischer Sinn und Liebe zum Waffenhandwerk keiner ihrer Nationalzüge ist, auch tüchtige Generale wie Lazarew und Tergukassow in Rußland, wo Staatsmänner armenischer Herkunft wie Loris Melikow und Delianow hervorragenden Anteil an der Leitung der Geschäfte des Kaiserreichs hatten. In Konstantinopel befinden sich viele der höchsten Posten in den Händen von Armeniern, die sich aber freilich zum Islam bekennen. In der Künstlerwelt haben Namen wie die der Maler Adamianz und Aiwasowsky einer guten Klang.

Trotz ihrer Zerstreuung über fremde Länder fühlen die Armenier sich als ein besonderes Volk; Sprache und eigene Litteratur bilden das vereinigende Band, und in der Heimat haben sie ihren nationalen und religiösen Mittelpunkt. Das Kloster Etschmiadsin unweit Eriwan in Transkaukasien, Sitz des Katholikos aller Armenier und einer armenisch-gregorianischen geistlichen Akademie, enthält eine kostbare Bibliothek und eine Druckerei, aus der viele seltene armenische Werke hervorgegangen sind. Das armenische Kloster auf der Insel San Lazzaro bei Venedig ist ein altehrwürdiges Denkmal armenischer Wissenschaft und Gelehrsamkeit.

Die Armenier haben sich bis auf die jüngste Zeit von jeder politischen Agitation ferngehalten. Sie haben sich damit begnügt, sich um ihre Kirchen als streng geschlossene Gemeinden zu scharen. Erst in unseren Tagen sind sie in Konstantinopel und in Trapezunt aus ihrer Reserve herausgetreten und haben eine politische Agitation begonnen, die für sie selber jene grausame Verfolgung von seiten der Türken heraufbeschworen hat, welche die menschliche Teilnahme in so hohem Grade herausfordert. Der Schritt war unklug, aber erklärlich. Es war ein Irrtum, zu hoffen, durch eine friedliche Demonstration endlich die Durchführung der ihnen so oft in Aussicht gestellten Reformen bewirken zu können.

Die türkischen Gewalthaber stehen seit langer Zeit den Armeniern feindlich gegenüber. Gerade ihr festes Zusammenschließen erscheint ihnen gefährlich. Der Versuch, sie aus ihrem Stammlande durch Herbeiziehung von Kurden und anderem Räubergesindel zu vertreiben, ist zum großen Teil gelungen. Und er muß gelingen, wenn den Bedrängten keine Hilfe von andrer christlicher Seite kommt.

„Aber,“ so fragen wir mit Ernst Häckel, „soll eins der schönsten, von der Natur am reichsten gesegneten Länder ewig dazu verdammt sein, unter der Herrschaft eines asiatischen, höherer Kultur unfähigen Volkes eine Wüste zu bleiben? Sollen ausgedehnte Landstrecken, die mit Gebirgen und Flüssen, Wäldern und fruchtbaren Ebenen reich ausgestattet sind, nur der Wohnsitz unsteter Nomaden und indolenter Fatalisten sein?“


Gymnastik in der Kinderstube.

Die rauhe Winterszeit fesselt die kleinen Kinder an die Stube, und durch diesen notgedrungenen Aufenthalt in geschlossenen Räumen erwachsen für das junge Geschlecht allerlei gesundheitliche Schäden. Vor allem erleidet die freie Bewegung der Kleinen eine wesentliche Einschränkung. Das Rennen und Jagen in der engen Stube ersetzt ihnen niemals das Umhertummeln im Freien; ja mit der Zeit werden sie laß und faul, was die Uebung des Körpers anbelangt. Dagegen müssen die Eltern einschreiten und das winterliche Spiel derart regeln, daß auch die Bewegung zu ihrem Rechte kommt. Systematische Leibesübungen lassen sich mit den Leutchen in den Kinderschuhen nicht vornehmen, wohl aber giebt es auch eine Kinderstuben-Gymnastik, die, richtig geleitet, sehr gute Früchte tragen kann. Vater und Mutter können mit den Kleinen derart spielen, daß dieselben gewisse Muskelgruppen üben und über bestimmte Körperteile und Bewegungen sicherere Herrschaft erlangen, ja diese Kinderstuben-Gymnastik vermag sogar einer Anlage zu den so überaus häufigen Verkrümmungen des Rückgrates entgegenzuwirken.

Wir wollen an dieser Stelle als Beispiel zunächst einige Beinübungen erwähnen.

Die meisten Menschen sind mehr oder weniger einseitig. Trotz der symmetrischen Anlage des Körpers bilden sie ihre Glieder nicht gleichmäßig aus. Von den beiden Armen und Händen sind in der Regel die rechten vollkommener entwickelt, und ähnlich verhält es sich auch mit den Beinen. Wenn man Erwachsene beobachtet, so bemerkt man, daß bei ihnen fast ohne Ausnahme ein Bein bevorzugt ist. Dieses Bein übernimmt die Hauptarbeit beim Stehen, Gehen etc., und die Folge davon ist, daß dieses mehr benutzte und geübte Glied kräftiger wird. Hält sich dieser Unterschied in mäßigen Grenzen, so bringt er keinen Nachteil. Das bevorzugte Bein wird jedoch öfter merklich länger als das vernachlässigte und alsdann wirkt die Ungleichheit der unteren Gliedmaßen auf das Rückgrat zurück; die Mehrzahl der seitlichen Ausbiegungen des Rückgrats, die man bei jugendlichen Personen als sogenannte hohe Schultern beobachtet, ist auf diese ungleiche Benutzung der Beine zurückzuführen. Besonders deutlich tritt dieser Umstand bei Kindern hervor, welche, bevor sie auf die Füße kommen, sich durch Rutschen fortbewegt haben, denn das Rutschen geschieht stets einseitig durch ein bestimmtes Bein; dieses wird dadurch frühzeitig kräftiger als das andere und bleibt auch später das bevorzugte. Aber auch diejenigen Kinder, welche die Fortbewegung gleich mit dem Gehen beginnen, bevorzugen ein und dasselbe Bein, das, sobald es einmal stärker geworden ist, erst recht zu allen größeren Leistungen herangezogen wird. Dieses Bein muß dann beim Gehen, Hüpfen, Springen, Treppensteigen, ja selbst beim Stützen des Körpers während des Stehens die Hauptarbeit übernehmen. Aus diesem Grunde sollte man die Kinder sobald wie möglich dazu anhalten, beide Beine gleichmäßig zu gebrauchen. Das wird wohl niemals ganz gelingen, aber man wird die Einseitigkeit auf ein geringes Maß zurückführen und in unschädlichen Grenzen halten können.

Solche Beinübungen sind während des Winters in der Kinderstube sehr wohl auszuführen. Selbstverständlich bedarf das kleine Kind noch einer Stütze, eines Anhaltes während seiner ersten gymnastischen Versuche und führt dieselben aus, indem es sich mehr oder weniger an der Hand des Vaters oder der Mutter festhält. Da ist zunächst das Niederlassen zur Hocke hervorzuheben. Das Kind läßt sich, die Füße nicht sehr auswärts gerichtet, die geschlossen bleibenden Fersen abhebend und den Oberkörper gestreckt erhaltend, nieder bis zum Aufsitzen auf den Fersen, um sich dann sofort in den Stand aufzurichten. Ferner sind leichte Sprungübungen zu empfehlen. So kann das Kind den Tiefsprung lernen. Es springt von einem Tritt, einer Fußbank, später von einem Stuhl auf den Fußboden hinab, während der Vater vor ihm stehend es an den Händen und Vorderarmen gefaßt hält und den Aufsprung durch einen gelinden Gegenzug nach oben mäßigt. Die Hauptaufgabe des Erziehers ist bei dieser Uebung, das Kind zum gleichmäßigen Absprung zu bringen.

In derselben Weise kann ein gleichfüßiger Hochsprung geübt werden, zunächst über ein auf den Fußboden gelegtes Band, das allmählich um einige Centimeter erhöht wird. Man geht dann zum Ansprung und gleichfüßigen Hüpfen über. Sehr nützlich sind auch einige für das Kindesalter geeignete Rumpfübungen, z. B. die „Brücke“. Während das Kind auf dem Rücken gestreckt liegt, schiebt man ihm ein Kissen unter den Kopf und ein anderes unter die Fersen; dann hebt es den Körper, soweit er noch auf dem Fußboden aufliegt, ab und erhält ihn zwischen seinen beiden Unterstützungspunkten schwebend. Die Mitte des Rumpfes sei dabei ein wenig, aber nicht stark emporgewölbt. Die anfangs nötige Hilfe erfolgt durch Heben des Körpers bis in die richtige Lage, so daß das Kind in derselben sich nur durch Muskelanspannung zu halten hat.

Eine hübsche Uebung ist auch der Vorliegestütz. Das Kind nimmt zuerst die Bauchlage auf dem Fußboden ein, dreht die Beine möglichst auswärts, so daß die Füße nicht mit dem Fußrücken, sondern mit dem inneren Rande aufliegen. Alsdann werden die Füße gebeugt, d. h. die Fußspitzen angezogen und die flachen Hände auf den Fußboden neben den Schultern aufgestemmt. Nun werden die Arme gestreckt, so daß zunächst der Oberkörper von der Erde abgehoben wird; endlich wird der Bauch eingezogen, bis der Rumpf mit den Beinen eine gerade, allmählich absteigende Linie bildet und nur von den inneren Fußrändern und Handflächen getragen wird. Geübtere Kinder kann man dann „Schubkarren“ fahren, indem man ihre Füße vom Boden abhebt und sie zum Weiterschreiten mit den Händen veranlaßt.

Ein großer Freund und Wohlthäter der Kinderwelt, der Leipziger Arzt C. H. Schildbach, hat für Eltern, Lehrer und Kindergärtnerinnen ein Büchlein geschrieben: „Kinderstuben-Gymnastik“ (Leipzig, Verlag von Veit u. Co.), in dem viele derartige Uebungen angeführt sind, die sich für Kinder vom vollendeten zweiten bis zum fünften und sechsten Lebensjahre eignen. Möchte das Büchlein in Händen sorgsamer Eltern auch nach dem Tode des Verfassers Gutes stiften! Selbstverständlich nimmt man diese Uebungen gelegentlich vor, wahrt bei ihnen trotz des ernsten Zieles den Charakter des Spiels und darf sie niemals bis zur sichtlichen Ermüdung des Kindes fortsetzen. C. F.     


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