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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Sterben.

Novelle von Eva Treu.

 (Schluß.)

Der alte Herr holte tief Atem.

„Ich weiß, daß Sie mir helfen können,“ sagte die junge Frau, das Schweigen unterbrechend, zu dem alten ergrauten Freunde, „und wenn Sie es mir weigern, werden Sie mich doch nicht zu hindern vermögen, zu thun, was ich mir vorgenommen habe. Nur auf eine andere, häßlichere Art wird es dann geschehen müssen, nur mein Elend muß ich dann preisgeben, das ich vor neugierigen Augen wahren möchte, ach, nicht um meinetwillen! Nur daß dann die Welt auf mich oder sonst jemand Steine werfen wird, während ich mich doch still fortschleichen möchte, ohne daß jemand ahnt, wie es zugeht. Dazu nur sollten Sie mir helfen! Es giebt Stoffe – ich weiß, Sie haben seltene und geheim wirkende Gifte, deren Spur sich verflüchtigt. Sie selbst zeigten sie mir einst. Wenige Tropfen vielleicht würden genügen, mir die Qual eines langen Kampfes und noch vieles, vieles andere zu ersparen.“

„Kind,“ sagte der Alte und machte leise seine Hand los, die Frau Agnes umklammert hielt, „wissen Sie, was Sie von mir verlangen?“

„Ja, eine That der Barmherzigkeit.“

„Nein, einen Mord.“

Aber wenn ich Ihnen sage, daß es auf jeden Fall geschehen wird? Heute, morgen oder an einem der nächsten Tage, aber ganz gewiß bald, ob Sie mir nun helfen oder nicht.“

Der alte Mann sah schweigend auf sie hin, auf ihr junges Gesicht und ihr schönes Haar, das sich, feucht vom Regen, ihr an die Schläfen legte. Er schüttelte leise den Kopf.

Haben Sie von dem, was Sie so elend macht, Ihre eigene Schuld abgezogen?“

„Ich trage keine.“ Sie stand auf und reckte ihre schlanke Gestalt ein wenig empor. „Also Sie wollen mir nicht helfen? Ich hatte es anders gedacht. Es bleibt mir also nur der Fluß. Nun, wie Sie wollen! O nein, fürchten Sie nichts, ich werde nicht von hier aus direkt ins Wasser gehen und Sie kompromittieren. So sehr eilt es nicht damit. Ich habe noch verschiedenes zu ordnen, aber wiedersehen werden wir uns wohl kaum. Leben Sie wohl!“

Sie nahm ihren Mantel und wandte sich zur Thür, müde, entmutigt, enttäuscht, aber in ihren Augen flimmerte etwas, was den alten Mann die Hand auf ihren Arm legen ließ.

„Bleiben Sie, Sie sollen nicht in den Fluß gehen. Ich sehe, daß Sie es thun würden. Kann ich Sie nicht zurückhalten, so kann ich es Ihnen doch erleichtern. Ich will Ihnen geben, was Sie wünschen.“

Sie sagte nichts, dankte auch nicht, aber sie kehrte an den Tisch zurück und ließ sich wieder in den Sessel nieder, aus dem sie sich soeben erhoben hatte.

Der alte Mann ging an einen Wandschrank, schloß auf, nahm ein Glas heraus und füllte es mit altem dunklen spanischen Wein. „Sie werden noch einen Augenblick verweilen müssen,“ sagte er ernst und ruhig, trinken Sie das inzwischen; Sie sind naß und erschöpft, es wird Ihnen gut thun.“

Sie nahm das Glas mechanisch. Ja, trinken – etwas trinken – etwas, das heiß und feurig war! – Es war ihr nun auf einmal, als hätte sie danach gelechzt, und sie setzte das Glas an die Lippen und trank es leer. Ach, wie wohlig das durch die Adern rieselte! Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen, während der alte Mann eine Kerze anzündete und in das Nebenzimmer trat.

Frau Agnes war so erschöpft, daß der schwere Wein sie fast einschläferte. Die Lider sanken ihr herab, und sie lag eine ganze Weile, in den Sessel zurückgelehnt, in jenem sonderbaren, dämmerigen Zustand, der nicht Wachen, nicht Schlafen ist und in dem man den Maßstab für Zeit und Raum verliert. Wie lange? Vielleicht fünf Minuten, vielleicht eine halbe Stunde, oder länger, sie hätte es nicht sagen können, als sie endlich wieder empor schreckte, von der Stimme des alten Mannes geweckt.

„Sie haben lange warten müssen.“

„Nein, nein,“ sagte sie; sie war auf einmal wieder ganz wach und streckte die Hand aus, das winzige Gläschen in Empfang zu nehmen, welches in der seinen glänzte.

„Gott allein weiß, ob ich das Rechte thue, und wenn ich nicht überzeugt wäre, daß sonst Schlimmeres geschähe, so würde ich mich um keinen Preis dazu verstehen,“ sagte der alte Mann mit einem Seufzer, die Hand noch zögernd zurückziehend.

„Sie handeln barmherzig.“ Ein feines Rot trat in ihr schönes Gesicht, ein Aufleuchten von Freude in ihre Augen.

Und nun hielt sie es in der Hand, das kleine Glas, winzig, nicht größer als das oberste Glied ihres kleinen Fingers, nur wenige Tropfen einer klaren Flüssigkeit fassend, von wunderlicher Form und mit einer Art Kautschuk verschlossen.

„Und wie – wie wird die Wirkung sein?“

Der alte Mann schwieg eine ganze Weile und sah auf sie, wie sie das Gläschen gegen das Licht hielt und mit einem beinahe freudigen Ausdruck darauf blickte. Als er nicht antwortete, wendete sie die Augen fragend ihm zu.

„Das Fläschchen darf nicht geöffnet werden, ehe man den Inhalt benutzen will. Dieses indische Gift“ – er nannte einen fremd klingenden Namen – „verflüchtigt sich sonst fast augenblicklich, und die wenigen Tropfen, die das Glas enthält, reichen ganz genau aus, um“ – er zögerte und fuhr dann langsam fort zu dem Zwecke, den Sie wünschen. Nicht ein Tropfen darf fehlen. In eine Speise geschüttet, färbt es dieselbe, obgleich es, wie Sie sehen, an sich farblos ist, sofort dunkel violett. Der Geschmack dagegen soll nicht unangenehm sein, sondern etwas fade süßlich. Die Wirkung tritt im Laufe von vierundzwanzig Stunden allmählich ein, ohne Schmerzen zu verursachen. Man wird müde, die Glieder werden schwer, man schläft ein und – erwacht nicht wieder.“ Er hatte eintönig und leise gesprochen. „Nein, nein, Kind, geben Sie es mir zurück!“ rief er plötzlich lebhaft. „Was Sie thun wollen, ist Wahnsinn, und ich bin schlimmer als ein Wahnsinniger, Ihnen dazu zu verhelfen!“

Sie schüttelte den Kopf und barg die Hand mit dem Glase in der Tasche.

„Ich danke Ihnen so sehr,“ sagte sie mit einer plötzlichen herzgewinnenden Wärme in Stimme und Blick, „es ist lange her, seit jemand so gut gegen mich war. Leben Sie wohl! Und fügen Sie Ihrer großen Güte noch das hinzu: schweigen Sie gegen jedermann über dies alles!“

Sie hatte ihm die Hand gedrückt und war rasch aus der Thür gegangen, ehe er ein Wort hatte erwidern können. Der alte Mann stand mitten im Zimmer und sah ihr nach. „Armes Kind – gebe Gott, daß es das Richtige war,“ murmelte er, indem er mit der Hand über die Stirn und dann über den schneeweißen Bart strich.

Er setzte sich an sein Buch zurück, aber es war ihm unmöglich, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, er klappte es zu, legte es beiseite und ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, ruhelos in dem Gemache auf und ab, bald vor dem Sessel stehen bleibend, auf dem die schöne Frau gesessen hatte, als spräche er zu ihr, bald gedankenverloren in das Licht starrend, und dann wieder mit tiefgesenktem Haupte seine Wanderung fortsetzend.

„Armes Kind – armes Kind! – Es war schließlich das einzige, was ich thun konnte, um ihr darüber weg zu helfen.“

Die junge Frau eilte indessen raschen Schrittes denselben Weg, den sie gekommen war, zurück. Das Wetter hatte sich noch verschlechtert, aber das ließ sie ganz gleichgültig. Beinahe leicht war ihr zu Mut, seit sie das kleine Glas in ihrem Besize wußte. Es war ein köstlicher Gedanke, allem, was ihr das Herz so schwer gemacht hatte, nun entrinnen zu können, sobald sie wollte, morgen, heute, in einer Stunde – jetzt, wenn es ihr so gefiel.

Aber nein, jetzt sollte es noch nicht geschehen. Es gab noch so manches zu ordnen, Bestimmungen zu treffen über ihr kleines Eigentum – sie wußte, die würde „er“ respektieren, so fremd sie sich auch geworden waren – Briefe zu verbrennen, die sie in niemandes Hände fallen lassen mochte, nicht einmal in die seinen, obgleich er selbst sie geschrieben hatte – einst in der Brautzeit.

Ja, selbst Kleinigkeiten fielen ihr nun ein, die sie nicht so zurücklassen mochte wie sie waren, wenn sie für immer ging. Sie wußte, daß fremde Augen in Kasten und Schränke blicken würden, und hier und da war in der lezten Zeit, wo der Gedanke an ihr Elend sie so ganz hinnahm, etwas vernachlässigt worden. Es sollte alles sein, wie es sich gehörte, wenn sie ging; kein Tadel, selbst um geringfügiger Dinge willen, sollte sie treffen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 800. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_800.jpg&oldid=- (Version vom 21.7.2023)