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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

kann nur einem Mann gehören, in dessen Seele mir alles, alles offenbar ist.“

Hortense umarmte sie und stand auf. „Martere Dich nicht mehr mit dem, was Du könntest und nicht könntest. Liebe, das Leben allein lehrt Dich das, heute weißt Du es noch nicht. Denke still über alles nach, was ich Dir sagte, vielleicht kommen Stunden, wo Du es begreifst.“

„Du willst gehen?“ fragte Magda bang, als sie sah, daß Hortense sich nach ihrem Mantel suchend umthat.

„Muß ich nicht endlich?“

Magda fürchtete sich vor der Einsamkeit. Sie hätte gemocht, daß die kluge, liebevolle Freundin noch stundenlang fortgesprochen hätte.

Aber Hortense hatte noch ein gutes, letztes Wort auf den Lippen. Sie wußte genau, womit man ein unglückliches, vergehendes Frauenherz aufrichtet und nährt.

Als sie Magda an der Thür noch einmal umarmte, flüsterte sie in ihr Ohr: „Er kann Dich vielleicht im Leben noch einmal sehr brauchen. Er wird es bald erfahren, daß solches Herz ein Schatz ist, den man nicht alltäglich findet. Und da Du jetzt von ihm scheidest, gieb ihm noch ein Großes mit: die Pflicht, Dich um Deiner Haltung willen zu achten!“

Magda schritt in ihr Zimmer zurück. Ihre Haltung war gebeugt, ihr Antlitz fahl und die Augen brannten.

Aber es war doch in ihnen ein wehmütiges Licht.

Und die blassen Lippen murmelten vor sich hin: „Er wird mich vielleicht noch einmal brauchen.“ (Fortsetzung folgt.)


Unsere Einbildungskraft.

Von Ernst Eckstein.


Spät abends bei mattschimmerndem Sternenlicht komm’ ich in Glismarhausen oder Salzdahlheim an und beschreite die Schwelle des „Goldenen Ankers“. Eh’ ich mein reisegeschütteltes Haupt zum Schlaf in die Kissen drücke, öffne ich das niedrige Fenster und lasse die köstlich erquickende Nachtluft hereinströmen. – Welch ein Anblick! – Das schottische Hochland mit all seinem wundersamen Balladenduft! – Wie malerisch! Wie romantisch! Drüben links dunkle, geheimnisumschauerte Hügelwände. Nach der Mitte zu eine verschattete Wasserfläche, in der sich die purpurrote Laterne eines poetischen Kahns spiegelt. Weiter nach rechts schroffe Zacken und Felsmassen, und ein architektonisches Etwas, das an die Zinnen einer mittelalterlich trotzigen Burg am Rheinesufer gemahnt. Wo bin ich denn hingeraten? Wer hätte dem „elenden Reste“ das zugetraut?

Am folgenden Morgen erweckt mich das Läuten der Sonntagsglocken. In rosigster Laune verlasse ich mein etwas härtliches Lager. Die zauberische Landschaft da draußen soll mich für die mangelnden Daunen und Sprungfedern schadlos halten.

Aber was seh’ ich? Ist das die nämliche Scenerie, die mich gestern beim Schimmer der Sterne so in Verzückung gesetzt? Welche Verwandlung!

Die Hügel zur Linken sind öde und reizlos; die Wasserfläche, breit von der Sonne bestrahlt, erweist sich als ein erbärmlicher Teich; die Felszacken sind das Profil eines unschönen Steinbruchs; und was ich so in der Nacht für die romantische Architektur eines Ritterschlosses gehalten, das entpuppt sich als der Schornstein des nahegelegenen Waschhauses. Aller Duft, alles Rätselhafte, alles Poetische ist dahin; hilflos stehe ich einer ernüchternden Wirklichkeit gegenüber.

Wie ist es möglich gewesen, diese prosaische, vegetationsarme Scenerie für ein so köstliches Märchengelände zu halten?

„Sehr einfach,“ antwortet nun der gedankenlose Instinkt. „Es war ja dunkel. Nur der spärliche Sternenschein zitterte über den Böschungen, die du sofort mit herrlichen Laubgehölzen bekleidet, über dem Steinbruch und dem ragenden Schornstein, die du ums Achtfache ihrer wahren Entfernung hinausgerückt und mit allen Erinnerungen an die prächtigsten Punkte des Rheinstroms verziert hast.“

Ganz recht: es war dunkel.

Aber dieser Mangel an Licht, diese Unfähigkeit, deutlich zu sehen, erklärt doch noch immer nicht die eigentümliche Thätigkeit unserer Einbildungskraft.

Weshalb malt uns die Phantasie das undeutlich Wahrgenommene schöner und nicht etwa häßlicher als die Wirklichkeit?

Logisch wäre es doch ganz ebenso denkbar, daß wir den Teich da unten als eine widerwärtige Lache und die Hügel da drüben, die doch wenigstens von Gras und Gestrüpp überdeckt sind, als leichenfarbige Sandhaufen ausgelegt hätten.

Dergleichen aber geschieht nie. –

Weshalb nicht?

Wer überhaupt fähig ist, über Erscheinungen, gegen die uns die Alltagsgewohnheit eigentlich abgestumpft hat, bei Gelegenheit sich zu verwundern, der wird uns zugeben, daß hier ein Problem, eine Aufgabe für den erklärenden Scharfsinn vorliegt. Die verschönernde Kraft unserer Phantasie bei undeutlich erkannten Objekten ist in der That durchaus nicht so schlechthin selbstverständlich, wie der gedankenlose Instinkt meint. Es giebt ja auch Seelenzustände, bei denen die Einbildungskraft nach der entgegengesetzten Richtung hin thätig ist, z. B. die Furcht. Ein Mensch, der sich fürchtet, malt sich das undeutlich Erkannte immer feindlicher, schreckhafter und gräßlicher aus, als es in Wahrheit ist. Er sieht lauernde Unholde, Räuber, Mörder, Gespenster. Die Wiese, auf der sich der Nebel regt, wird ihm bei seiner nächtlichen Wanderung zum bedrohlichen Sumpf, der kleinste Hügelabhang zum gähnenden Bergschlund. Bei der Furcht also verfährt die Einbildungskraft verhäßlichend – pessimistisch – während sie in dem oben geschilderten Falle optimistisch verfährt.

Wie kommt das?

Ehe wir antworten, sei das Problem noch durch ein weiteres und, wie ich glaube, interessanteres Beispiel erläutert. Wir gehen hierbei von dem undeutlich erkannten Ding auf die undeutlich erkannte Person über – und finden so vielleicht schneller den Schlüssel des eigentümlichen Rätsels.

Du siehst auf der Straße oder im Ballsaal eine harmonisch gegliederte Frauengestalt.

„Die ist hübsch!“ – ruft alsbald deine vorgreifende Einbildungskraft. Du machst vielleicht einen Freund, der neben dir steht, auf die angenehme Entdeckung aufmerksam, und mit großer Lebhaftigkeit stimmt er dir bei.

Nun kommt ihr näher, und je näher ihr kommt, um so entschiedener löst sich jene vermeintliche Schönheit der Züge in Mangelhaftigkeit, ja vielleicht in Unschönheit auf.

Aus der Entfernung habt ihr nur das hübsche Oval des Gesichts, die Frische der Farben, die strahlenden Augen mit einiger Undeutlichkeit wahrgenommen: das Nichtwahrgenommene, die Linien, die das Gesicht unschön machen – also etwa den unsympathischen Zug um den Mund, die häßliche Nase etc. – hattet ihr kraft eurer optimistischen Phantasie just so entworfen, wie diese Dinge eigentlich hätten sein sollen, und erst später erkennt ihr mit Unlust, daß sich die Wirklichkeit mit eurem Entwurfe nicht deckt.

Weshalb – so lautet die Frage, auf die es ankommt – zeichnet die Einbildungskraft nicht zur Abwechslung auch einmal eine geradezu scheußliche Nase in das undeutlich wahrgenommene Gesicht, um später beim Näherkommen zu finden, daß die Wirklichkeit schöner ist als das Vermutete?

Dieser umgekehrte Fall ereignet sich in der That nie – selbst dann nicht, wenn man uns schon vorher gesagt hat, die Dame, der wir heute zum erstenmal begegnen sollen, sei häßlich. Die Einbildungskraft behauptet sogar der glaubhaften Warnung eines bewährten Freundes gegenüber eigensinnig ihr Recht. Werden wir eines solchen Mädchens zum erstenmal aus genügender Ferne ansichtig, dergestalt, daß die häßlichen Einzelheiten noch nicht zur Geltung kommen, so erhebt sich sofort in uns eine Stimme, die gegen die Warnung Protest einlegt. Wir denken: „Aber die ist ja gar nicht so häßlich!“ Man giebt dem Freund also unrecht, trotz so mancher Erfahrung, die uns belehren könnte; immer wieder vertraut man der Aussage der verklärenden Phantasie – bis zum Beweise des Gegenteils.

Noch überraschender zeigt sich der Optimismus der Einbildungskraft in dem folgenden Fall, wo wir von dem Gesichte, das wir

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_762.jpg&oldid=- (Version vom 26.7.2023)