Seite:Die Gartenlaube (1895) 543.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Freiheit.

Novelle von A. von Klinckowstroem.

Schattenlos inmitten weiter Acker- und Wiesenflächen war die kleine Bahnstation der vollen Einwirkung sommerlicher Nachmittagsglut ausgesetzt. Die Sonne flimmerte auf den Schienen und erhitzte die hellen Backsteinmauern des nach der üblichen Schablone aufgeführten Gebäudes, das in seiner regungslosen Stille und träumerischen Verschlafenheit fast den Eindruck des Ausgestorbenseins machte. Das einzig Lebendige schien der Zeiger der großen Bahnhofsuhr zu sein, welcher stetig seinen Rundgang fortsetzte. Als er der sechsten Stunde nahekam, öffnete sich die Thür des Stationsbureaus. Ein Mann in blauer Bluse und Dienstmütze trat heraus, stellte schläfrig das Signal, welches verkündete, daß die Einfahrt für den Schnellzug frei sei, und blinzelte dann, die Augen mit der Hand beschattend, die Landstraße entlang, auf welcher einzelne Staubwölkchen das Nahen verschiedener Gefährte anzeigten. Auch im Innern des Gebäudes regte es sich nun. Der Kellner, der hinter dem Schenktisch geschlafen hatte, schreckte empor, als er den rostigen Klang der Signalstange hörte, scheuchte die Fliegen von den wenig Vertrauen erweckenden Wurst- und Käsebrötchen, rückte Flaschen mit Likör und Limonade-Essenzen zurecht und trat dann gleichfalls hinaus.

„Da kommen zwei Wagen aus Strehlen!“ sagte er, mit dem Kopf mach der Straße hindeutend. „Der eine ist vom Schloß. Das gnädige Fräulein wird vermutlich mit diesem Zug zurückerwartet. Der andere gehört dem Oberinspektor. Muß wohl Besuch erhalten, der Herr Boße, denn der Kutscher steckt in einer Art von Livree, die für gewöhnlich nicht spendiert wird.“

Der Mann in der Dienstmütze nickte gleichmütig. Das Kommen und Gehen der Reisenden interessierte ihn schon längst nicht mehr. Der Kellner jedoch konnte sich’s nicht versagen, als die beiden Gefährte an der Rückseite des Hauses hielten, durch die Hinterthür ein Gespräch mit den Rosselenkern anzuknüpfen. Es befriedigte ihn, zu erfahren, daß er recht vermutet, daß in der That heute Fräulein von Ostrau nach Schloß Strehlen zurückkehren werde. „Und was ist denn bei Euch los?“ fragte er den Kutscher des Oberinspektors mit einer herablassenden Vertraulichkeit, die er sich dem herrschaftlichen Würdenträger gegenüber nicht herausnahm. „Besuch, was? Jemand von der Familie? Ja, ja, im Sommer kommen die Städter gern auf Grasung.“

„Nee!“ lachte der Bursche, dem die silberbordierte Mütze schief auf dem Ohr saß. „Is nich an dem! Der Herr kriegt heute einen neuen ‚Eleven‘ für die Wirtschaft.“

„Mit denen pflegt Ihr doch sonst nicht so viel Umstände zu machen.“

„Es hat auch eine besondere Bewandtnis mit diesem. Fürs erste ist er überhaupt gar kein Eleve.“

„Das hättet Ihr gleich sagen können!“

„Zweitens hat er selbst ein Gut und kommt nur, um sich unsere Wirtschaft anzusehen. Vielleicht bleibt er aber doch längere Zeit, um dem Herrn etwas abzulernen. Soll ja auch kein ganz Junger mehr sein. Unsere Frau und nun gar die Mamsell machen ein Aufhebens von ihm, als wär’s ein Prinz, und er ist doch nur ein ganz gewöhnlicher Herr Wildenberg.“

Da gab auch die Glocke das Zeichen, der Zug brauste heran, und der Ruf „Dammhof! Drei Minuten!“ klang geschäftsmäßig von den Lippen der Schaffner, welche die Thüren der verschiedenen Abteilungen aufrissen, um etwa ein halbes Dutzend Personen herauszulassen.

Einem Coupé erster Klasse entstiegen zwei Damen. Die eine von ihnen, im Staubmantel von sandfarbener Seide, hielt ihre schlank emporgeschossene Gestalt hoch aufgerichtet und den blonden Kopf unter dem schwarzen einfachen Hut fast ein wenig zu sehr im Nacken. Leicht und elastisch war sie herausgesprungen und half dann ihrer ältlichen Begleiterin, die, beladen mit Körbchen und Päckchen, nicht so schnell hatte folgen können. Wie sie sicheren Schrittes über den Bahnsteig nach dem Wagen ging, ehrfurchtsvoll gegrüßt von dem Stationsbeamten, wandten sich die Köpfe der Anwesenden unwillkürlich, um ihr nachzublicken.

Aus einer Abteilung zweiter Klasse war ein Herr gestiegen, der seinen Gepäckschein dem Mann in der Bluse übergab und in weicher süddeutscher Mundart nach einem Wagen aus Strehlen fragte. Man wies ihn zurecht, und während er an das leichte Korbgefährt des Oberinspektors herantrat und Plaid und Reisehandbuch hineinwarf, trafen ihn die hellen Augen der jüngeren Dame, die wenige Schritte von ihm entfernt die Zügel aus den Händen des langbärtigen Kutschers entgegennahm, mit kühlem durchdringenden Forschen. Sie hielt sich jedoch nicht lange damit auf, sondern breitete die leichte Decke zum Schutze gegen den Staub sorgsam über die Knie ihrer Begleiterin, die mit einiger Mühe den hohen Vordersitz des eleganten Jagdwagens erklommen hatte. Einem unwillkürlichen Antrieb folgend, zog der Fremde den Hut und empfing zum Dank von der Blonden ein leichtes Neigen des Kopfes, in dem sich ein leises Erstaunen kundgab; er sah eben noch die reinen Linien ihres streng geschnittenen Profils und einen festen, goldig schimmernden Haarknoten im Nacken, dann zogen die Füchse, von ihrer Hand geleitet, an und entführten die Damen seinen Blicken.

Eine Weile noch blieb er nachdenklich stehen, über sich selbst lächelnd, und erst auf die Mahnung des Burschen hin, der ungeduldig zu werden begann, bestieg er den Korbwagen, der nicht allzu schnell in derselben Richtung davon rollte, welche der Jagdwagen genommen hatte.

Die Gegend war, obwohl ohne hervortretende Schönheiten, hübsch und anmutend, besonders für die Augen eines Landmanns, dem die Ueppigkeit der waldumkränzten Felder auffallen mußte, durch welche die Straße sich hinzog. Hier und da tauchten die roten Dächer stattlicher Bauernhöfe auf, und aus dichtem Laubgrün erhob sich in kleiner Entfernung ein wetterfester altersgrauer Kirchturm mit stumpfer Kuppe.

„Das ist schon unser!“ sagte der Bursche, mit dem Peitschenstiel die nächstgelegenen Felder und die Laubmassen samt dem aufragenden Kirchturm bezeichnend. „Strehlener Boden ist der beste im Kreise,“ setzte er voll Selbstgefühl hinzu. Herr Wildenberg nickte stumm und schaute weiter dem Turm entgegen, als sei der ein Wahrzeichen nach dem er seinen Kurs zu richten habe, bis das plumpe Dach hinter mächtigen Kastanien untertauchte, die vom Eingang des Dorfes her in breiter Allee am Kirchlein vorbei dem Herrenhause zuführten.

In der Lattenthür, die den Eingang von der Dorfgasse zu dem Pfarrgrundstück neben der Kirche vermittelte, stand der Geistliche, ein vollwangiger Mann in den Fünfzigen, und grüßte freundlich, als jetzt der Wagen des Oberinspektors vorüberfuhr, und ein halbes Dutzend Blondköpfe guckte neugierig durch die Fliederhecke, die den Garten umgab. Dem Ankömnnling fiel es auf, daß unter den blonden Köpfchen sich ein schwarzes befand, abweichend geartet, offenbar aus einer Rasse, die nichts mit der rotwangigen Derbheit der anderen gemein hatte. Es lag in seiner Natur, die zu stiller Beschaulichkeit neigte, dergleichen Kleinigkeiten zu beachten, und er wandte noch einmal das Gesicht aufmerksam nach dem Pfarrgarten hin, wo nun der dunkle Kopf und die blonden lachend niederduckten und sich nicht weiter sehen ließen.

Der behäbige Wohlstand und der idyllische Friede dieses Fleckchens Erde muteten ihn an. Wie freundliche Augen blickten die Fenster des Pfarrhauses aus dichtem Weinlaub zu ihm nieder; durch die grüngestrichene Pforte des Gartens trat man unmittelbar in den tiefen Schatten der Kirchhofslinden hinaus.

Der Fremde nahm den vollen Eindruck dieses Bildes in sich auf, bis der Wagen mit plötzlicher Biegung in den Gutshof einschwenkte, welcher etwa tausend Schritt von dem Herrenhause entfernt lag, das in stattlicher Größe hinter dem Gitter des Parkthors zwischen breitästigen Kastanien und Platanen sichtbar wurde. Der Oberinspektor stand vor der Thür, um seinen Gast zu bewillkommnen, und er that das mit einer höflichen Zuvorkommenheit, die dem derben Landwirt sonst fremd war, aber Hans Wildenberg war ihm als wohlhabender Mann und Großgrundbesitzer, der sich im norddeutschen Wirtschaften umsehen wollte, von einem Freunde warm empfohlen. Freilich, die äußere Erscheinung des Ankömmlings imponierte ihm nicht gerade; Wildenberg war von schlankem schmalen Wuchs und erschien dadurch kleiner, als er in Wirklichkeit war. Die grauen Augen, das Einzige, was in seinem Gesicht auffiel, hatten einen sinnenden, in sich gekehrten Ausdruck und zeigten nichts von der Thatkraft, die für den Inspektor von dem Bilde eines richtigen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_543.jpg&oldid=- (Version vom 19.7.2023)