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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Aber, guter Rudolf! Was Dir jetzt diese junge Künstlerin ist – wohl so gegen zwanzig alt –

Ja, so sagt man, Vater –

Das waren Dir damals die Elses, und die ihnen folgten! Denn es kamen ja andre; wart’ nur! – Er blätterte wieder im Tagebuch. Mit Dimitri endete es noch gut, fing er an, denn nach Weihnachten schreibst Du: „Mit Gröben bin ich versöhnt; er possiert (so steht da) Else schon lange nicht mehr, und das mit den Briefen war nur erlogen.“ Bald danach ein großer Tag: „Ich habe lange Hosen bekommen, und ich gefalle mir gut in meiner männlichen Tracht.“ Aber – sind es diese langen Hosen, oder was sonst – nachdem Du vierzehn Jahre und etwas alt geworden, nimmt auch Dein Herz ganz andere Dimensionen an. Ich hab’ da einen Zettel eingelegt; ja, da steht’s: „Ich liebe augenblicklich eigentlich drei Mädchen: immer noch Else, dann ein Mädel, sehr hübsch, aber älter wie ich: Grete Müller, und drittens ein sehr hübsches Kind, dessen Namen ich nicht einmal weiß.“ Dieses hübsche Kind erscheint auf dem nächsten Blatt als „seelenvoll-dunkeläugig“ wieder –

Du willst mich verspotten, Vater.

Nein, gewiß nicht, erwiderte Volkmar; nur Dich ein wenig beruhigen, wenn Du Deine jetzige „Leidenschaft“ etwa zu tragisch nimmst. Uebrigens, wer sagte denn dieser Tage, Fräulein Thea gehe nach ihrer Benefizvorstellung fort?

Rudolf schüttelte den Kopf. Das ist nur so ein Gerede; weil sie mit dem Direktor einen bösen Zusammenstoß hatte. Sie bleibt aber doch wohl bis zum Schluß der Spielzeit; sie hat mir’s heute selber gesagt.

Hm! Sie bleibt ... Da fällt mir Dein Lorbeerkranz ein; alle Achtung, Rudolf. Mir kam’s vor, als sei er größer als Dein Geldbeutel –

Ja, Du hast wohl recht, sagte Rudolf mit etwas zerknirschtem Lächeln. Ich sah Nachmittags beim Blumenhändler den Kranz des Herrn von Fellenberg für Thea; da riß mich’s: „machen Sie meinen um die Hälfte größer!“ – Das find’st Du kindisch; nicht wahr?

Nun – so eigentlich männlich noch nicht! – Und doch faßtest Du schon damals, als Vierzehnjähriger, den Entschluß, Dich „zum Manne zu schmieden“; Du schriebst das sogar an Else, in einem „liebevollen Brief“, – da steht’s: „in welchem ich ihr erkläre, daß wir für unser Verhältnis zu alt geworden seien“ ... Aber das arme Herz kommt doch nicht zur Ruhe. Das Schlittschuhlaufen war Dir schon damnals gefährlich; gleich auf der nächsten Seite steht: „Auf dem Eise wurde ich zwei jungen Damen vorgestellt, von denen mir Grete Müller“ – die schon erwähnte – „sehr gut, aber Marie Walter noch besser, fast zu gut gefällt. Ich unterhalte mich prachtvoll mit ihr; beide sind sehr hübsch. Buridans Esel!“

Das war ja doch nicht Liebe, Vater. Kindliche Tändelei –

Du liesst auch damals schon Bogen, Rudolf: fast so gut wie jetzt! – Nur noch eine kleine Blütenlese aus dem Tagebuch, aus dem nächsten halben Jahr. Seite 190 „... Die entzückende Marie, die ich jetzt wirklich liebe und von der ich weiß, daß sie mich auch wiederliebt. Sie ist ein dolles Mädel, aber so berückend hübsch und hold!“ – Seite 226: „Heute ist Gründonnerstag, himmlisches Wetter, und ich bin verliebt. Und zwar bin ich wieder einmal doppelt verliebt; Marie liebe ich noch immer, aber augenblicklich ein noch hübscheres Mädchen, Fräulein Weiß, noch mehr. O, sie ist so hübsch – und ich kriege so liebe Blicke von ihr!!!“ – Seite 228: „... Am Abend desselben Tages kehrte ich von einem reizenden Abend bei Wilhelmis heim – mit einem neuen Pfeil im Herzen: die hübsche Bertha hat mir’s angethan!“ – Seite 253: „Meine Liebe zu Marie“ – wir sind also wieder bei Marie – „ist seltsam: manchmal liebe ich sie leidenschaftlich, dann wieder gedenke ich ihrer tagelang gar nicht“ ... Und Seite 264 – da haben wir’s! – Seite 264 „begräbst Du sie als Tote Deines Herzens“ – – Amen! – Mein geliebter Junge! So, hoff’ ich, wird Dir’s auch mit der himmlischen Thea ergehen. Zuerst „Tage lang gar nicht“, sondern als tapfrer Abiturient über Deinen Büchern; und dann, etwas später, „Tote Deines Herzens“!

Rudolf stand auf er trat vor den Vater, ihn gerührt, doch wehmütig anblickend; ging von ihm hinweg, durchs Zimmer hin, und kam wieder zurück. Ach, Vater, Du meinst mir’s gut, sagte er bewegt; die Dankbarkeit lag wie ein Schleier über seiner Stimme. Es kann mir’s auch nie ein Mensch so gut meinen wie Du! Es giebt auch keinen solchen Vater wie Du –

Das sagen viele Söhne, unterbrach ihn Volkmar lächelnd.

Ich glaube doch, keiner von ihnen –

Volkmar unterbrach ihn wieder: Da müßten wir doch auch erst von dem Sohn sprechen. Meiner hat viel Liebe zu mir, das ist gewiß!

Ja, das ist es, Vater. Glaub’ mir – – Du hast aus dem Buch da von allerlei Verliebungen vorgelesen; glaub’ mir, Vater, so wie Dich hab’ ich von denen keine geliebt! Nie! nie! – – Aber jetzt – ich muß Dir ja alles sagen – jetzt hab’ ich so ein verrücktes, quälendes, schlechtes Gefühl in der Brust; als wär’s zum erstenmal anders; als ging’ mir diese Thea – – Ich kann ja nichts dafür, Vater. Es ist so gekommen. Zuerst als Schauspielerin – dann auf der Straße, als – – und nun auf dem Eis, so gut, so lieb – gleich wie eine Freundin. Es ist alles so harmonisch in ihr ... Du lächelst. Vielleicht versteh’ ich das auch noch nicht. Ich bin ja noch jung. Ich mußte Dir nur sagen, Vater: wie ich Dich liebe, das kann nie anders werden, nie geringer werden; aber so wie für Thea – hab’ ich noch nicht gefühlt!

Ja, der hat herzensgute Augen! dachte Volkmar; auf der Tischkante sitzend, versenkte er sich in das junge, liebeausstrahlende, nur jetzt etwas zu elegische Gesicht. Kann ja sein, sagte er nach einer kurzen Stille, mit seiner gewöhnlichen Ruhe und Fassung. Vielleicht irrst Du – vielleicht auch nicht. Wer weiß das im Augenblick! ’s ist wie mit Deinem Examen, Rudolf: vielleicht bist Du schon durch, das mündliche wird Dir erlassen; aber vielleicht auch nicht. Wird es Ernst mit dem mündlichen, nun, dann mußt Du außer dem Frack auch Deine Stärke anziehen, Dich in geistige Gala werfen. Wird es mit dieser Thea Ernst – treibt der Teufel sein Spiel mit Dir – so mußt Du Dich wehren, bis Du den Teufel am Boden hast. Aber nur nicht weich sein und denken: ja, ja, es hat mich, es hat mich! Nicht wie diese Fürsten und Feldherrn, die vor dem großen Napoleon so ’nen höllischen Respekt hatten, daß sie immer dachten: er hat uns schon; sondern wie der alte Held, der Blücher, auf ihn los ging, ohne Menschenfurcht: „Da kann der Bonaparte die schönsten Schmiere kriegen!“ Oder wie der kleine Bengel heute ... Auf dem Eis sah ich ein Kerlchen, das immer wieder vom Schlitten fiel, weil es zu wenig Platz hatte; aber unverzagt immer wieder hinauf. Denk’ Du nur: „Der Teufel foppt mich, es ist nicht so schlimm. Ich sitz’ schon auf einem ganzen Berg von Verliebungsschichten.“ Darum nahm ich ja das Tagebuch! Nur zu Deiner Stärkung!

Ja, ja, sagte Rudolf leise. Ja. Ich will’s versuchen ...

Er faßte plötzlich des Vaters Hand und küßte sie. Dann sah er ihn voll Dankbarkeit an; um seine Lippen zog sich aber doch etwas Unheimliches, und er zuckte die Achseln, als wollte er sagen: mir ist nicht zu helfen! – Gute Nacht! sagte er nur noch, scheinbar ruhig wie sonst, machte eine unbestimmte, grüßende Bewegung mit beiden Händen und stürzte aus der Thür.

(Fortsetzung folgt.)


Die Eröffnung des Kaiser Wilhelm-Kanals.

Von Paul Lindenberg
(Mit dem Bilde auf S. 472 und 473.)

Die festfrohen Tage in Hamburg und Kiel sind vorübergerauscht, die bunten glänzenden Bilder, die sie brachten, sind verschwunden, aber ihr farbenreicher Zauber wird nicht nur bei denen, die sie an sich vorbeiziehen lassen konnten, haften bleiben: sie sind allüberall im weiten Vaterlande miterlebt worden. Tage des Glanzes und der Freude waren es in Hamburg wie in Kiel, Tage, die neben einer stolzen Versammlung der deutschen Fürsten und Volksvertreter, auch die maritimen und offiziellen Vertreter sämtlicher großer Kulturnationen vereinigt sahen, um der Einweihung des bedeutsamen Friedenswerkes beizuwohnen, Tage, in denen der Ruhm deutschen Geistes und deutscher Arbeit, die beide vereinigt in erster Linie die großartige Verbindung von Ost- und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_474.jpg&oldid=- (Version vom 18.4.2024)