Seite:Die Gartenlaube (1895) 309.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Nr. 19.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.
(5. Fortsetzung.)


Tante Anna und Ditscha speisen allein in dem großen Eßzimmer, dessen zur halben Höhe getäfelte Wände das Wappen derer von Kronen in Holzschnitzerei zeigen, umgeben von frommen Engelsköpfchen. In den Ecken des Gemaches liegen tiefe Schatten, kaum hier und da blitzt eine Messingplatte oder ein Glasgefäß auf, mit denen der Sims besetzt ist, der sich oberhalb der Holztäfelung hinzieht. Die Plätze des Hausherrn und Tante Berthas sind leer, Friedrich serviert den Karpfen so geräuschlos als möglich.

Ditscha genießt fast nichts. Sie blickt im Zimmer umher und denkt, daß sie zum letztenmal in dem traulichen Raum beim Lampenschimmer sitzt, wohlgeborgen und warm, während draußen der Wintersturm an den Läden rüttelt, und wie es sein wird, wenn sie hier alle um den Tisch versammelt sind – ohne sie. Ob sie ihr fluchen oder verzeihen werden? Und ob sie jemals wieder über die Schwelle dieses Hauses treten darf? Es ist ihr ja doch, so gut es konnte, eine Heimat gewesen.

Tante Anna speist mit bestem Appetit. „Du gehst doch morgen in die Christmesse, Ditscha?“ beginnt sie.

Ditscha nickt.

„Du weißt, morgen bleibe ich bei meinen Geschwistern, jemand von der Herrschaft sollte aber auf alle Fälle in unserem Kirchenstuhl sein.“

Und als das junge Mädchen nicht antwortet, spricht sie weiter. „Es wäre besser, Joachim gäbe sein Murren gegen Gottes Willen auf und machte Frieden mit ihm – aber noch ist er weit entfernt davon!“ Tante Anna seufzt. „Nun gehst Du wohl zu Klementine?“ fährt sie fort.

Ditscha nickt abermals.

„Grüße sie; ich habe noch zu schreiben – gute Nacht, Ditscha! Oben wirst Du übrigens etwas finden von mir, möchte es Dir Freude machen!“

„Ich danke Dir, Tante,“ sagt Ditscha, die Serviette zusammenfaltend. Zum letztenmal! denkt sie dabei.

Droben im Turmgeschoß steht Hanne im kleinen Vorzimmer auf der Lauer, und als sie Ditschas Schritte hört, ruft sie, die Thüre öffnend: „Einen Augenblick warten Se hier, gnä’ Fröln Ditscha! Wann Fröln Klementine lüten, dann kommen Se in!“ Damit schießt die kleine Frau durch die knapp geöffnete Thür in das Wohnzimmer, aus dem einen Moment lang ein heller Glanz bricht.

Ditscha steht geduldig da und wartet. Auch hier nimmt sie Abschied, von alten Schränken und lauschigen Winkeln, in denen sie mit ihren Puppen gespielt, von dem Bogenfenster mit seinem Blick in die weite, weite Welt. Sie tritt näher und späht hinaus – zum letztenmal! Ganz in der Ferne bewegen sich Lichter, das ist der Bahnzug, der nach Hamburg eilt. – – Ach, morgen!

Der Ton eines Glöckchens schreckt sie empor, Hanne reißt die Thür auf. Ganz fein und silbern klingt Tantens Spieldose Ditscha entgegen. „Stille Nacht, heilige Nacht!“ Und wie sie in


Hugo Vogel in seinem Atelier.
Aufnahme nach dem Leben.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_309.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2023)