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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

so steht der Verwirklichung derselben noch manches im Wege. Das Acetylen ist kein harmloser Körper, wie alle andern Kohlenwasserstoffe explodiert es, wenn es mit der Luft in gewissem Verhältnis vermengt und dann entzündet wird; es ist auch giftig und hat einen unangenehmen Geruch. Das sind allerdings Fehler, die es mit dem Leuchtgas und zum Teil auch mit dem Petroleum gemeinsam hat. Die Technik wird also zunächst die Aufgaben lösen müssen, Acetylenlampen zu schaffen, die eine zuverlässige Sicherheit gegen Explosionsgefahr bieten würden. Auch die Brennerfrage wird einiges Kopfzerbrechen verursachen, da das Acetylen in gewöhnlichen Leuchtgasbrennern mit stark rußender Flamme brennt.

Ob diese Schwierigkeiten unüberwindlicher Natur sein werden? Das ist kaum anzunehmen, wenn man z. B. die Fortschritte beachtet, welche im Laufe weniger Jahrzehnte in der Konstruktion der Petroleumlampen erzielt wurden. Jedenfalls steht dem Acetylen eine Zukunft bevor; die Techniker werden allen Scharfsinn dransetzen, um es zu bändigen und auszubeuten, denn es ist ein Lichtspender ersten Ranges. *     


Der Fähnrich als Erzieher.

Eine Backfisch-Studie von Hans Arnold.


Hänschen, Dein Zopf ist aufgegangen!“

Ich weiß!“ erwiderte die Angeredete, eine Wendung, durch welche junge Damen von vierzehn bis sechzehn Jahren jede Ungehörigkeit in ihrer Toilette entschuldigt glauben, „ich weiß! Der Assessor hat es mir schon gesagt. ‚Ihr Zöpfchen ist aufgegangen!‘ sagte er geziert – Zöpfchen! er könnte froh sein, wenn er so ein ‚Zöpfchen‘ hätte!“

„Nun, ob er darüber gerade so sehr froh wäre, das wollen wir dahingestellt sein lassen,“ meinte die Mutter, „was sagtest Du denn darauf?“

„Ich sagte: ‚Ach?!‘ so recht eklig! Was geht es ihn an? Er ist nicht meine Gouvernante, wenn er sich auch so aufspielt! Das ‚Du‘-Sagen habe ich ihm wenigstens jetzt abgewöhnt,“ setzte die Sprecherin triumphierend hinzu.

„Wie denn?“ erkundigte sich die Mutter rasch und angstvoll.

„Ich sagte: Die Köchin muß mich jetzt ‚Sie‘ nennen – Mama wünscht es! ‚Ich bin ja keine Köchin!‘ antwortete er unverschämt – aber er ‚siezt‘ mich seitdem. Sein Glück!“

„Ist er denn schon lange da?“ frug die Mutter.

Stundenlang!“ erwiderte Hänschen unwillig, eine Metapher, die sich, im Licht der Wahrheit besehen, auf etwa zehn Minuten reduzierte, „er sitzt drüben und wartet auf Papa.“

„Aber Kind, dann geh’ doch hinüber und unterhalte ihn!“ drängte die Mutter, „ich muß nur noch Tischzeug herausgeben – sei einmal in Deinem Leben brauchbar – hörst Du?“

Hänschen stand zweifelnd und flocht an dem dicken dunkelbraunen Zopf, der allerdings die Bezeichnung „Zöpfchen“ in keiner Weise rechtfertigte.

„Er spielt, glaube ich, mit Karl Halma,“ sagte sie zögernd, „ich kann heute nicht mit ihm sprechen – ich bin zu wütend auf ihn!“

„Was hat er denn gethan?“ frag die Mutter erstaunt.

„Das verlorene Vielliebchen hat er mir gebracht!“ erwiderte die junge Dame ingrimmig.

„Nun, das ist doch sehr nett von ihm!“ beschwichtigte die Mutter und strich dem Unband lächelnd über den Kopf, „in was besteht es denn?“

„Das ist’s ja eben!“ knirschte Hänschen, „‚Briefe über Litteratur‘, ich denke, er wird mir gebrannte Mandeln oder sonst was Vernünftiges schenken – aber so ein dummer Schmöker!“

Die Präsidentin seufzte.

Diese Ausdrücke,“ sagte sie bekümmert. „Du mußt doch noch in die Pension – ich sehe es schon – es hilft nichts! Aber jetzt kommst Du mit und benimmst Dich ganz vernünftig – Du hast Dich gewiß noch nicht bei dem Assessor bedankt!“

„Auch noch!“ meinte Hänschen höhnisch und folgte der Mutter in das Wohnzimmer, vor dessen Thür sie sich noch das kleine Vergnügen gönnte, dem ahnungslosen Gast eine lange Nase zu machen.

Der Gegenstand dieser gefühlvollen Huldigung erhob sich beim Eintritt der Damen und wurde von der Mutter mit besonderer Freundlichkeit begrüßt.

Er war ein schlanker, etwas gebückt gehender Mann von etwa 28 Jahren, mit einem liebenswürdigen, dunkeln Gesicht, und eigentlich der Liebling des ganzen Hauses. Nur Hänschen rebellierte gegen ihn, weil der Assessor, wie allerdings zugestanden werden muß, es nicht unterlassen konnte, eine pädagogische Einwirkung auf die junge Dame ausüben zu wollen, die im Vollgefühl ihrer fünfzehn Jahre und des „sehr bald“ Erwachsenseins dagegen ankämpfte wie ein junges Pferdchen gegen den Zaum.

Hänschens jüngere Geschwister, der dreizehnjährige Karl und Lotte, die zehn Jahre alt war, ließen sich gelegentlich von ihr zu einem Guerillakrieg gegen den Assessor anwerben, schon aus dem Grunde, weil der Gegenstand dieses stillen, aber erbitterten Kampfes, der seit Jahren ein sehr häufiger Gast im Hause des Präsidenten war, manchmal etwas „Ernstes“ zum Vorlesen mitbrachte. Die Kleinen wurden angesichts dessen vor die grause Wahl gestellt, entweder um acht Uhr ins Bett zu gehen oder regungslos und artig einer Abhandlung über die Schweizer Bundesverfassung oder über Tertiärbildungen in dem Gestein der mitteleuropäischen Gebirge zuzuhören – was nach Karls Versicherung so langweilig war – „beinahe wie die Schule!“ Aus all’ diesen kleinen Zügen ergiebt sich ohne Schwierigkeit die Thatsache, daß der Assessor ein niederträchtiger Charakter sein mußte.

Ob dieser Bösewicht nicht im Grunde das kleine „Erziehungssubstrat“, das ihm so ungebärdig widerstrebte, viel niedlicher fand, als er es sich merken ließ, das muß dahingestellt bleiben – die Mutter glaubte es und war sogar so unvorsichtig gewesen, dem Präsidenten darüber eine Andeutung zu machen.

„Ich bin fest überzeugt, wenn Hänschen drei Jahre älter wäre, könnte sie dem Assessor ganz gefährlich sein!“ behauptete sie.

„Blödsinn!“ erwiderte der Vater mehr aufrichtig als galant, „thue mir den einzigen Gefallen, Mathilde, und fange nicht an, Wickelkinder verheiraten zu wollen – das ist mir im höchsten Grade unsympathisch!“

Die Mutter schwieg beschämt, behielt sich aber ihre Ueberzeugung vor, was ihr niemand verdenken kann.

An dem Abend, da unsere Geschichte beginnt, wartete also, wie gesagt, der Assessor, und mit ihm die übrige Familie, schon eine geraume Zeit auf das Erscheinen des Hausherrn.

Bei Präsidents wurde sonst immer um sieben Uhr Thee getrunken und der Vater ließ sich diese Stunde höchst ungern verschieben. Heute abend aber schien ein Besuch, den er angenommen hatte, ihn ungebührlich lange aufzuhalten.

Endlich öffnete sich die Thür, das Familienoberhaupt erschien und begrüßte den Assessor und die Seinigen.

„So,“ sagte er behaglich, „das wäre überstanden – und nun rasch zum Abendbrot.“

Bald saß alles um den gemütlichen runden Theetisch, der Gast zwischen der Mutter und Karl, mit dem Hänschen im letzten Augenblicke blitzschnell den Platz getauscht hatte. Sie befand sich infolge dieses strategischen Manövers dem Feinde gerade gegenüber, der es mit seinen pädagogischen Grundsätzen ganz vereinbar zu finden schien, sich an dem reizenden Gesichtchen seines vis-à-vis zu freuen, in dessen trotzige dunkelblaue Augen das Licht der Hängelampe tanzende Funken streute.

„Wer hat Dich denn so lange aufgehalten?“ frug die Mutter und schenkte Thee ein.

„Ach, es war ein wahres Kreuz!“ meinte der Vater lachend, „noch ein Stück Zucker, Mathilde! – Der Fähnrich machte seinen Antrittsbesuch und konnte kein Ende finden! Nachdem ich mich nach seiner Garnison und nach seinem Vater erkundigt und erfahren hatte, daß der Letztere in Karlsbad gewesen sei, schienen unsere geistigen Anknüpfungspunkte erschöpft zu sein, und wir erzählten uns dann nur noch stockend und mühselig – im Anschluß an Karlsbad! – wie viel unsere sämtlichen Bekannten und Verwandten im letzten Jahre ab- und zugenommen hätten! – Der arme Junge litt ersichtlich eben solche Höllenqualen der Langenweile wie ich und konnte nur den Augenblick nicht erhaschen, wo er sich empfehlen sollte.“

„Was ist das für ein Fähnrich?“ frug der Assessor.

„Der Sohn eines alten Jugendbekannten von mir,“ erwiderte der Vater, „dessen Existenz ich, offen gestanden, total vergessen hatte. Nun ist sein Junge hier auf die Kriegsschule gekommen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_175.jpg&oldid=- (Version vom 17.7.2023)