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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Ein Tag in Wörishofen.

Von Max Haushofer.
(Mit den Bildern S. 57 und S. 61.)


Breit liegen die Herbstnebel auf der südbayerischen Hochebene, während der dröhnende Bahnzug uns westwärts trägt. Station um Station fliegt vorüber. Wie eine Gespensterlandschaft erscheint im Süden der Spiegel des Ammersees, dann die alten Türme des Städtchens Landsberg am Lech, jene Türme, die einst von den Frauen und Mädchen Landsbergs so heldenmütig gegen die Schweden verteidigt wurden. Noch etliche Stationen – dann hält unser Zug in Türkheim. Außer dem Stationsgebäude ist fast nichts zu sehen als Wald, dunkler nebelumrauchter Fichtenwald. – Ein Dutzend Fuhrwerke hält am Bahnhofe: gelbe und blitzblaue Kästen, Ein- und Zweispänner. Wir entschließen uns zu keinem derselben, sondern fragen einen Gendarmen, der sich mit einem Kutscher friedlich unterhält, um die Straße nach Wörishofen. Der Diener der öffentlichen Sicherheit weist uns ein Sträßchen, das vom Bahnhof in südlicher Richtung waldeinwärts läuft. Eine gute Stunde sei’s nach Wörishofen, und nicht zu fehlen.

Eine Schar von Kutschern lädt uns mit schmeichelhaften Handbewegungen zum Einsteigen ein. Wir danken so höflich, wie die doch nicht ganz selbstlose Einladung verdient, und wandern zu Fuß weiter. Bald umfängt uns ein lockerer melancholischer Wald, eigentlich nur einzelne Gruppen von Bäumen, mit weiten Ausblicken in ein Nebelmeer. Das Sträßchen ist spottschlecht, mit grobem Schotter bedeckt, mit großen Pfützen durchsetzt, so daß es wohl eine halbe Stunde währt, bis uns der letzte der langsam einher holpernden Wagen überholt hat. Und nun lichten sich Wald und Nebel, im Südwesten sehen wir weites Blachfeld sich ausdehnen und am Rande der Ebene, wo die Landschaft wieder hügelig wird, ein schwäbisches Bauerndorf mit einigen ragenden Türmen, weißen Häusern und roten Ziegeldächern. Das ist Wörishofen.

Vor undenklicher Zeit mag wohl ein mächtiger, aus den Lechthaler Alpen niederbrausender Gletscherstrom seine Geschiebe hier niedergelegt haben. Jetzt ist dieser Strom verschwunden; am westlichen Ufer seines meilenbreiten, längst vom Bfluge gefurchten Bettes liegt Wörishofen, halb in der Ebene, halb an die angrenzende Hügellehne hingebaut. Statt des verschwundenen Gletscherstromes fließt mitten durch das Dorf nur ein sanftes Wässerlein, der Wettbach, welcher, so bescheiden er auch daherströmt, doch genug Wasser für die Kuren des großen Heilkünstlers von Wörishofen mit sich führt.

Wörishofen gehört in das bayerische Bezirksamt Mindelheim, im Kreise Schwaben. Die Lage des Ortes ist nicht gerade romantisch, aber freundlich, und bei klarem Wetter grüßt von Süden her die langgestreckte Kette der bayerischen und schwäbischen Alpen, überragt von der mit ihren Felsmauern und Schneefeldern großartig aufstrebenden Zugspitze. Der Ort hat etwa 1000 Einwohner, eine hübsche Pfarrkirche und daneben ein weitläufiges Kloster, in welchem Nonnen vom Orden der Dominikanerinnen eine Erziehungsanstalt für verwaiste und verwahrloste Mädchen errichtet haben, daneben auch eine Haushaltungs- und Molkereischule unterhalten und sogar der Kunst des Biersiedeus obliegen.

Das alles würde dem Orte zu keiner Berühmtheit verholfen haben. Eine solche gewann derselbe erst, als sein jetziger Pfarrherr, Sebastian Kneipp, anfing, mit erstaunlichem Erfolge als Heilkünstler aufzutreten. Seit jener Zeit ist Wörishofen im Laufe wenig6er Jahrzehnte zu einem der besuchtesten Kurorte Deutschlands geworden.

Sebastian Kneipp hat im Jahre 1821 als Sohn einer armen Weberfamilie in dem Dörfchen Stephansried das Licht der Welt erblickt. Erst ward er Weber und spät gelang es ihm, doch noch die geistlichen Studien zu vollenden und im Jahre 1852 die Priesterweihe zu erhalten. Er wurde zunächst Beichtvater des Dominikanerinnenklosters zu Wörishofen, seit 1881 auch Pfarrer des Orts.

Zur Thätigkeit auf dem Gebiete der Heilkunde führte ihn, wie er erzählt, die Sorge um die eigene Gesundheit, welche in seiner anstrengenden Studienzeit einigermaßen gelitten hatte. Er probierte an sich selber die Kaltwasserheilmethode, die ja an sich nichts Neues war; er entwickelte sie selbständig weiter, und als er an sich die schönsten Erfolge sah, gab er auch Anderen Rat. Einige gelungene Kuren verschafften ihm Ruf in weiteren und immer weiteren Kreisen, und heute ist der schlichte Webersohn eine europäische Berühmtheit, wie es einst der „Wasserdoktor“ Vincenz Prießnitz zu Gräfenberg in Schlesien war; Tausende und aber Tausende wallfahrten nach seinem schwäbischen Dorfe, um Heilung bei ihm zu suchen; wenn er Vortragsreisen nach den großen Städten unternimmt, findet er überall mächtigen Zulauf, in Rom zeichnete ihn sein höchster Oberhirt aus; der Ehrentitel eines Prälaten ward ihm zu teil; sein erstes Buch „Meine Wasserkur“ erlebte im Laufe weniger Jahre mehr als fünfzig Auflagen.

Das waren große und seltene Erfolge. Den Mann konnten sie nicht verändern, aber sein heimisches Wörishofen haben sie gründlich umgestaltet. Aus dem schwäbischen Bauernnest ist ein strebsamer Kurort geworden.

Schon von weitem fallen uns zahlreiche Neubauten auf. Wir nähern uns dem Orte und begegnen städtisch gekleideten Herren und Damen, sämtlich barfüßig oder mit nackten Füßen in Sandalen gehend, die Damen auch barhäuptig. Ein flüchtiger Blick in die Auslagen der Ladengeschäfte belehrt uns sofort, daß hier alles dem Kurgebrauche dient und von der Kneippkur lebt. Die Schuhmacher führen nur Sandalen, die Krämer nur kurmäßige Artikel: Kneippwäsche, Kneippkaffee und dergleichen.

Das Barfußlaufen, welches hier Sitte und Kurgebrauch ist, hat offenbar einen vernünftigen Sinn insofern, als es den Menschen immerfort darauf aufmerksam macht, wie wertvoll für ihn überhaupt eine naturgemäße Tracht und eine naturgemäße Lebensführung sei. Für zarte Damenfüße bietet die beschotterte Landstraße namentlich eine recht wünschenswerte Gelegenheit zur Abhärtung.

Wir wandern weiter durch den Ort, indem wir uns fast genieren, Stiefel an den Füßen zu haben, weil wir sehen, daß einigemal teils vorwurfsvolle, teils bemitleidende Blicke auf unserer ketzerischen Fußbekleidung haften.

Zu unserer Linken zeigt sich nun die Pfarrkirche, ein teilweise ehrwürdiger Bau aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts, zum Teil auch renoviert. Um die Kirche ist der kleine Friedhof des Ortes gelagert; und da uns die Neugier plagt, zu sehen, ob interessante Kurgäste hier begraben seien, steigen wir zu dem erhöhten Friedhof hinan. Aber unsere Neugier ist enttäuscht; hier schlummern bloß Einheimische den ewigen Schlaf. Von Fremden stirbt, wie es scheint, niemand in Wörishofen. Oder werden diese Toten nur in ihrer eigenen Heimat begraben?

Das Kloster, welches unmittelbar neben der Pfarrkirche, nur durch eine Gasse von ihr getrennt liegt, ist ein weitläufiger unschöner Bau aus dem vorigen Jahrhundert, aber mit einer hübschen zopfigen Kirche. Der aus einigen Fenstern des Klosters qualmende lebhafte Malzgeruch deutet an, daß man drinnen mit Bierbereitung beschäftigt ist. Vergeblich aber ist unser Bemühen, eine der frommen Schwestern bei dieser profanen Beschäftigung zu beobachten, das Fenster ist zu dicht vergittert und verqualmt.

So wenden wir uns nach dem Westende des Dorfes. Hier ist alles im Werden und Bauen begriffen. Zwischen den alten Bauernhäusern erheben sich frischgetünchte Neubauten städtischen Aussehens mit Kaufläden und Restaurationslokalen. Auf einem größeren Platze sind Turngerüste aufgestellt, einige barfüßige Kurgäste schwingen sich da eifrig an Reck und Barren. Eine

Seite dieses Platzes wird von einer mit gläsernen Wänden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_060.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2021)