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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

eiskalte Miene auffallen mochte, „sie denkt nicht an dergleichen – schone sie doch!“

„Na, wenn man achtzehn Jahre alt ist, kann man den Gedanken schon ins Auge fassen. Was meinen Sie dazu, Olga? Heutzutage, wo die Mädels so wohlfeil sind wie Heidelbeeren – denken Sie doch, meine Damen, es giebt in Deutschland nahezu eine Million Frauen mehr als Männer – da sollte doch jede froh sein, wenn einer kommt und – – Sie nehmen es doch nicht übel, Olga? Natürlich, es giebt immer Ausnahmen, es giebt Frauen, denen trotz der Minorität der Männer zwanzig auf einmal zu Füßen liegen. Ich hab’ Ihre Erfolge nicht vergessen; ich meine nur, wenn man so ein kleines unbedeutendes Käferchen, so ein Fräuleinchen von Habenichts ist und es bietet sich da – es wäre einfach eine Vermessenheit, Nein zu sagen. So ’was wird auch nicht passieren, wird nicht passieren, Helene, kann’s gar nicht!“

„Wenn das Fräulein von Habenichts seine gesunden fünf Sinne hat und überhaupt sich bewußt ist, keine Handelsware zu sein, sondern ein selbständig denkendes Geschöpf, kann’s doch passieren,“ sagte ich keck, „und ist sogar schon passiert im Laufe der Zeit.“ Mit diesen Worten beendete ich siegreich – wie ich meinte – das Wortgeplänkel, und das Gespräch kam in andere Bahnen, bis man sich nicht allzuspät trennte. Ich war froh, endlich allein zu sein.

Ein paar Minuten später klopfte es an meine Thür. „Mama, Du?“ fragte ich erstaunt.

„Nein, ich!“ rief Wollmeyers Stimme, „öffnen Sie, ich habe mit Ihnen zu reden.“

Er trat ein, sichtlich aufgeregt. „Erlauben Sie, daß ich mich setze,“ begann er und zog einen Stuhl zu dem Tisch, den ich mir an den Ofen geschoben hatte, um in dessen behaglicher Nähe an die Base zu schreiben. Dann eine Pause; einigemal setzte er zum Sprechen an und verstummte wieder. Ich hatte mich soviel als thunlich in den Lehnstuhl zurückgelegt, um möglichst viel Raum zwischen ihm und mir zu schaffen. Was ums Himmels willen sollte nun kommen?

„Ich mache mir gar keine Illusionen über Ihre Gefühle gegen mich,“ begann er endlich. „Sie lieben mich nicht, und ich, ich hätte eigentlich auch keinerlei Grund, mich zu Ihnen hingezogen zu fühlen. Aber trotzdem – die herzliche Zuneigung für Sie ist nun einmal da seit jenen Tagen, da Sie in kurzem Röckchen zu Hannchens Füßen mit den Puppen meines verstorbenen Töchterchens spielten.“

Was nun? Dachte ich befremdet.

„Ja, ja, so ist’s, liebes Kind,“ fuhr er fort. „Ich habe Sie väterlich lieb, und Sie – vermeiden mich, wo Sie können, und thun mir bei jeder Gelegenheit weh. Aber in einem Punkt, meine ich, werden wir uns doch finden, und das ist in der Liebe zu Ihrer Mutter. Diese Mutter beherrscht der einzige Gedanke: wie wird sich die Zukunft meiner Tochter gestalten? Sie verzehrt sich in Gram und Kummer darüber, sie weiß so gut wie Sie und ich, daß Sie nicht gerade die Allerstärkste an Gesundheit, daß Sie ganz arm sind und außerdem einen Charakter besitzen, der Sie wahrlich nicht befähigt, auf eigenen Füßen durchs Leben zu gehen. Sie sind eine stolze kleine Dame, meine gute Anneliese; ich gebe ja zu, daß Ihr Name recht wohlklingend ist, aber, sehen Sie, davon kann man doch nicht leben. Und wenn ich Sie sonst recht verstehe, so sind Sie auch nicht allzugern abhängig von einem Menschen, dem Sie so wenig Sympathie entgegenbringen wie mir?“

„Sicherlich!“ schaltete ich gelassen ein.

„Und wenn man dies alles nun ruhig erwägt, so ist es nahezu unbegreiflich, aus welchen Gründen Sie einen Antrag zurückweisen, der aus wahrer Neigung und Achtung hervorgegangen ist und der Sie nach jeder – aber auch nach jeder Richtung hin zufriedenstellen muß. Sie sollen nicht denken, Anneliese, daß ich Ihnen zureden will. Sie mögen mir’s glauben oder nicht – es wird mir schwer, ein Wort zu gunsten des Mannes zu sprechen, der Sie uns entführen will, aber ich halte es für meine Pflicht, dies zu thun, denn ich habe Ihr Glück im Auge, und zudem bestimmt mich der Wunsch Ihrer Mutter dazu. – Ich habe nun Brankwitz, der ganz verzweifelt ist, gesagt, es sei ein bißchen Koketterie von Ihnen; Ihr angeborener Widerspruchsgeist lasse Sie so spröde thun, und ich denke, damit werde ich nicht weit vom Ziel getroffen haben.“

Er machte eine Pause, putzte den goldenen Klemmer und sah mich an, als erwarte er eine Aeußerung. Aber ich schwieg und begann, unartig genug, meinen Bleistift zu spitzen.

„Ich wiederhole jetzt den Antrag, Anneliese, im Namen Ottos von Brankwitz, und füge noch hinzu, daß es nach jeder Richtung hin wünschenswert ist, Sie nehmen denselben an. Sie würden auf Damnitz leben in der Nähe Ihrer Mutter, und diese würde endlich in Ihrem Geborgensein die Beruhigung finden, die ihr, weiß Gott, sehr nötig ist.“

Mein Bleistift war gespitzt und ich wischte mir die Fingerspitzen an einem Stückchen Löschblatt ab, das ich aus der Briefmappe riß. Ich zitterte innerlich vor Angst und machte doch ein möglichst gleichgültiges Gesicht.

„Sie brauchen sich heute abend nicht zu entscheiden, Anneliese,“ fügte er freundlich hinzu, „sagen Sie mir bis übermorgen mittag Antwort und regen Sie, bitte, mit der ganzen Angelegenheit Ihre Mutter nicht auf!“

(Fortsetzung folgt.)


Der letzte Lieutenant der Großen Armee.

Von Paul Holzhausen.


Vor einigen Monaten durchlief heimische und ausländische Blätter die überraschende Kunde, daß in der an der unteren Wolga gelegenen russischen Gouvernementsstadt Saratow ein 126jähriger Greis Namens Nikolai Andrejewitsch Sawin lebe, welcher noch als Offizier an den napoleonischen Feldzügen teilgenommen habe. Dieser Mann sollte am 17. April 1768 geboren sein und am 21. Mai d. J. seinen 126. Namenstag gefeiert haben. Die Sache kam mir zu fabelhaft vor, um ohne weiteres geglaubt zu werden. Ich wandte mich daher, in einer jener Stimmungen, die uns für das Fremde, Ungewöhnliche und Romantische ganz besonders empfänglich machen, an den alten Herrn selber, um festzustellen, ob er denn wirklich noch existiere oder vielmehr unter die mythologischen Persönlichkeiten gerechnet werden müsse. Für den ersteren Fall ersuchte ich ihn recht freundlich, mir durch eine ihm nahestehende Person über sein, wie ich voraussetzen zu dürfen glaubte, jedenfalls recht interessantes Leben einige nähere Auskunft erteilen zu wollen. Eine kurze Zeit verging, da erhielt ich auf meinen – ich gestehe es selber – recht sonderbaren Brief eine ausführliche Antwort. Der Schreiber derselben, ein ebenfalls in jener fernen Stadt Saratow lebender russischer Gelehrter, Mitglied der dortigen archäologischen Gesellschaft, Herr Constantin Woensky, hatte seinem Briefe ein umfangreiches, in vortrefflichem Deutsch geschriebenes Manuskript beigefügt, welches einen nach den eigenen Erzählungen jenes merkwürdigen Greises abgefaßten Lebenslauf des 126jährigen Kriegers enthielt. Mein liebenswürdiger russischer Korrespondent bat mich, was inzwischen geschehen, einen kurzen Auszug aus dem Manuskripte an eine verbreitete Tageszeitung zu übersenden, dagegen den ausführlichen Lebenslauf des uralten Soldaten einer gediegenen deutschen Zeitschrift zur Verfügung zu stellen. Sind auch die Mitteilungen des Alten über verschiedene hervorragende und längst bekannte Ereignisse der Vergangenheit begreiflicherweise verhältnismäßig dürftig, enthalten sie auch geschichtlich wenig Neues, so wird es doch für den heutigen Leser einen eigentümlichen Reiz gewähren, dieselben von einem Manne erzählen zu hören, der das hundert Jahre und länger Zurückliegende noch selbst erlebt hat. Ich komme deshalb dem Wunsche meines russischen Gewährsmannes nach, wobei ich nur bemerken möchte, daß ich die Erzählung des alten Kriegers etwa zwei oder dreimal unterbrochen habe, um einige notwendig erscheinende historische Bemerkungen einzuflechten. Zur vorläufigen Orientierung des Lesers mag dann noch gesagt werden, daß Nikolai Sawin richtig Nicolas Savin heißt, kein Russe, sondern ein geborener Franzose ist, und daß dieser Zeitgenosse der Königin Marie Antoinette und der großen Revolution als Offizier Napoleons I. im Jahre 1812 an der Beresina gefangen genommen worden und seither in Rußland geblieben ist.

Aber hören wir ihn jetzt selber, den wunderbaren Greis von der Wolga:

„Ich bin geboren in Paris den 17. April 1768; mein Vater André Savin war Oberst im Regiment der Gardes Françaises zur

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_714.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)