Seite:Die Gartenlaube (1894) 598.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Kochherd des verstorbenen Lieblings herbei und ließ mich damit spielen; an dem kleinen Rocken der Verstorbenen lernte ich spinnen, noch heute eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Dabei lehrte sie mich die alten traurigen Volkslieder singen, die auf dem Thüringer Walde von Mund zu Mund gehen. Je mehr ich heranwuchs, um so mehr wandte sich Frau Hannchens Herz mir zu. „Ich glaub’, so groß wäre meine Kleine jetzt auch, Base,“ pflegte sie dann zu sagen.

Gutes Hannchen Wollmeyer! Sie war so gern gestorben. Das behauptete die Base, und das hatte sie selbst ein paar Tage vor ihrem Tode zu meiner Mutter gesagt, als sie zum letzten Mal in der warmen Erdensonne saß und in das Grün des alten prächtigen Gartens schaute.

„Ich gehe gern, gnädige Frau, ich hab’s so satt mit das Leben. Immer egal im Fahrstuhl sitzen, nichts mehr thun können, das ist schlimm, und ich bin ja auch abkömmlich, und wenn ich erst ein Jahr tot bin, dann kann er sich eine andere Frau heiraten, eine gebildete Frau, die besser für ihn paßt, wegen der er sich nicht zu schämen braucht. Und wenn es wahr ist, daß ich meine Kleine wiedersehe da droben, wie der Herr Superuntendente sagt, dann will ich auch weiter nichts.“

„Aber Frau Wollmeyer,“ hatte meine Mutter erwidert, „wie können Sie so sprechen! Sehr, sehr wird Ihr Mann Sie vermissen, und die Base und andere Leute auch – nicht wahr, Anneliese?“

„Nee! Nee! Er vermißt mich nicht, Frau von Sternberg, Gott bewahre! Ja damals, da oben in Langenwalde, wie wir uns geheiratet hatten und zusammen in der alten schönen Mühle saßen und arbeiteten miteinander um unser täglich Auskommen und für die Zukunft unserer Kleinen – ja, da hätt’ er mich nicht gern hergegeben, ja, das glaub’ ich wohl. Aber jetzt ist er reich geworden und vornehm und hat so feinen Umgang mit alle die Ersten hier – – nee, nu nich mehr!“

Und Hannchen war in dem Glauben gestorben, daß sie ihn von einer großen Last befreie; sie mußte es ja genau wissen, wie er über sie dachte. „Laß Dich’s gut gehen, Wollmeyer,“ hatte sie gesprochen, „ich trage Dich nichts nach!“ Und noch etwas hatte sie hinzugefügt mit fast versagender Stimme und einem so ernsten großen Blick, wie ihn Augen haben können, bevor sie sich für immer schließen, etwas, das ich erst viel später erfuhr – durch die Base, die es gehört, obgleich es nur für die Ohren des Mannes bestimmt gewesen, der sich tief zu der Sterbenden hinuntergebeugt hatte. „Vergiß nicht, was Du mir versprachst! Vergiß nicht, Wollmeyer, den Robert – seinen Vater; wenn ich Ruhe haben soll im Grabe, so mach’s gut – bald, Wollmeyer – hörst Du, bald!“

Er mußte es ihr zugesagt haben, denn sie hatte ihm die Hand gedrückt und war friedlich eingeschlafen mit einem nochmaligen „Laß Dich’s gut gehen!“

Und nun war’s just ein Jahr, daß sie Hannchen begraben hatten, und alles ging scheinbar so weiter im Hause – bis auf den heutigen Tag. Der aber fing schon ganz anders an. Erstens begegnete mir die Base, als ich mit meiner Büchermappe in die Litteraturstunde zu Doktor Steinbergs Kursus ging, auf der Treppe und trug anstatt der schwarzen Haube von Krepp eine weiße wie vor Hannchens Tod und auch eine weiße Schürze wie damals. Sie fing meinen verwunderten Blick auf und sagte: „Da innewendig ist die richtige Trauer, Fräulein Anneliese, die schwarzen Sachen thun’s nicht.“ Zweitens traf ich den Witwer in einem funkelnagelneuen hellgrauen Cylinder, gelblichen Handschuhen und dunkelblauem Herbstanzug. Er schrie über die ganze Breite der Straße zu mir herüber, indem er seine bekannte wohlwollende Handbewegung machte: „Servus, Fräulein Anneliese!“

„Was hat denn der?“ dachte ich und dankte ihm wie immer sehr hochmütig, denn ich ärgerte mich von jeher, wenn er allzu familiär that; Papa hatte das auch nicht leiden können.

Ich hatte diese Beobachtung eben meiner Mutter erzählt, ohne ihre Aufmerksamkeit damit fesseln zu können, und so blickten wir beide ziemlich einsilbig auf den im letzten Zwielicht liegenden lindenbestandenen Schloßhof hinunter und weiter hinaus durch das geöffnete Thor, wo welke Blätter einen wirbelnden Reigen auf dem schlechten Pflaster des öden Kirchplatzes tanzten. Unser ganzes Zimmer war erfüllt von Blumenduft, der einem Strauß wundervoller Herbstrosen entquoll, Gloire de Dijon, mit Tuberosen untermischt; Mama hatte kein Wort gesagt, von wem diese Blumenpracht komme. Ich sehe meine Mutter noch so deutlich vor mir an jenem Tage. Sie war bleicher als seit langer Zeit; ich meinte, sie sorge sich einmal wieder zu viel und gräme sich in diesen Herbsttagen mehr noch als sonst um Papa. Desto erstaunter war ich, als sie plötzlich sagte: „Wir werden uns nach einer anderen Wohnung umsehen müssen, Anneliese.“

Wie wenn ein Blitzschlag vor mir niedergefahren wäre, so trafen mich ihre Worte. So lange ich denken konnte, wohnten wir hier; zuerst, als Papa das Quartier mietete, gehörte das schloßartige uralte Gebäude dem Freiherrn von Serrenburg. Der war ein Freund meines unvergeßlichen lieben lustigen Papas gewesen, und als er das Anwesen ein halbes Jahr vor Vaters Tode verkaufen mußte und der Stadtrat Wollmeyer es „meistbietend“ erstand, hatte dieser den Mietvertrag meiner Eltern auf Verlangen des Verkäufers anerkannt und übernommen. Ich hatte bis jetzt nie daran gedacht, daß es je anders kommen könnte.

„Wir wohnen zu teuer, Mama?“ fragte ich betrübt. Genaue Kenntnis der Vermögenslage meiner Mutter hatte ich nicht, ich wußte nur, daß wir recht arm waren.

„Ja! Das heißt – wir wohnen ja eigentlich so lächerlich billig, Anneliese. Onkel Serrenburg hat damals Papa einen sehr kleinen Preis abgefordert. Aber dennoch – wozu diese großen Räume? Wir könnten auch von den Möbeln so manches entbehren, und dann –“

„Und wie kommen wir dazu, von Herrn Stadtrat Wollmeyer ein Geschenk in Form eines zu billigen Mietzinses anzunehmen?“ fiel ich ein, durch den Gedanken, daß wir die Wohnung nicht nach vollem Werte bezahlten, unangenehm berührt. „Da kündigst Du wohl morgen, für Januar, Mama?“

Sie nickte. „Dann wohnen wir gerade fünfzehn Jahre hier. Du warst eben zwei Jahre alt, wie Papa als Bezirkskommandeur hierher versetzt wurde.“

„Ja, ich bin schon recht alt, Mama,“ sagte ich mit einem Versuch zu scherzen. Und dann preßte ich die Stirn an die Scheiben, damit die blasse Frau drüben nicht sehen sollte, wie mich der Gedanke erschütterte, aus den liebgewordenen Räumen scheiden zu müssen, in denen ich das Beste und Schönste meines jungen Lebens besessen und verloren hatte, die Liebe eines Vaters, der mich vergötterte und den ich ebenso abgöttisch wiedergeliebt hatte, der mir stets als das Ideal eines Mannes erschienen ist und noch heute erscheint – so ritterlich, so ehrliebend, so vornehm und so zufrieden mit einem einfachen, um nicht zu sagen, kargen Leben.

Es hätte so karg nicht zu sein brauchen, wenn nicht – armer Papa! – der Bruder meiner Mutter ihm eine schwere, sehr schwere Last auf die Schultern gelegt hätte, die mein Vater aus Liebe zu seiner Frau ohne Klage trug; nicht nur ohne Klage, im Gegenteil. An jenen für unbemittelte Leute sorgenvollen Tagen, die jährlich viermal wiederkehren, am Quartalschluß, wo er rechnete und wieder rechnete und mitunter nur ein winziges Sümmchen erübrigte nach Abzug aller zu bezahlenden Posten, da war er liebenswürdiger und aufgeräumter denn je und behandelte seine traurige junge Frau mit der zartesten Aufmerksamkeit. „Helene,“ pflegte er oft zu sagen, „wenn Du ein Bissel vergnügter sein wolltest, so tauschte ich mit keinem Gott! Und ich frage Dich, was entbehren wir denn eigentlich? Ich, für meine Person, nichts, gar nichts.“

„Außer dem Nothwendigsten – alles,“ antwortete sie.

„So? Da wäre ich doch neugierig.“

„Ein Reitpferd zum Beispiel!“

Er lachte. „Ich kann ja gar nicht reiten mit meinem Rheumatismus im Arm!“

„Und eine Badereise gegen diesen Rheumatismus!“

„Geh – das ist das langweiligste Vergnügen der Welt! Die Flußbäder thun’s auch. Und wenn Du nichts Besseres weißt –“

„Dein Weinkeller, Deine Bibliothek,“ fiel sie fast weinend ein. „Neue Bücher sind seit Jahren nicht gekauft worden, volle Flaschen ebenfalls nicht –“

„Das Bier ist hier so vorzüglich, daß ich den Wein nicht vermisse, und die Bücher gebe ich zurück, wenn ich sie gelesen habe; man kann sie so bequem entlehnen.“

„Du liebtest Geselligkeit so sehr,“ beharrte sie.

„Der Herr Stadtrat Wollmeyer hat mich ja vorgestern erst zum Diner geladen!“ antwortete er, ein Lächeln verbeißend.

„Ach, nennst Du das Geselligkeit?“ fragte sie und warf den schönen Kopf zurück.

„Aber, Helene, versteh’ doch Spaß! Die paar Leute, die wir

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_598.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2022)