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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

hinter sich. In Europa schlug er nacheinander in Zweikämpfen Harrwitz, Löwenthal und Anderssen – und nachdem er durch diesen letzten Sieg den Zenith seines Schachruhms erreicht hatte, zog er sich auf einmal gänzlich vom Schachspiel zurück und widmete sich seiner Advokatenpraxis. Er hatte kaum den Schachthron bestiegen, als er schon Krone und Scepter wieder niederlegte. Man hörte nur noch einmal von ihm, als er Ende der sechziger Jahre in eine schwere Krankheit verfiel, von welcher er sich nicht wieder erholte, er starb in geistiger Umnachtung.

Wie Anderssen und Morphy, so haben später zwei andere Meister, Zukertort und Steinitz, in Amerika um den Ruhm gekämpft, die ersten Schachmeister der Welt zu sein. Zukertort (1842 bis 1888) gehörte der Schule Anderssens an und hatte in Breslau, wo er Medizin studierte, vielfach mit dem Meister gespielt. Als freiwilliger Arzt beteiligte er sich an dem Feldzug von 1866, begab sich dann 1867 nach Breslau, wo er als Schachlitterat lebte, und 1872 nach London, wo er dauernd seinen Wohnsitz nahm. Bei verschiedenen Meisterturnieren hatte er erste Preise gewonnen, besonders glänzend in London 1883, und in zahlreichen Wettkämpfen erste Meister besiegt. Steinitz, den er in dem Londoner Turnier in vier Gewinnpartien überholt hatte, forderte jenen 1886 zu einem großen Match nach Amerika, wo Zukertort gänzlich geschlagen wurde, er konnte dies nie ganz verwinden und starb einige Jahre darauf. Er war schon kränklich gewesen in letzter Zeit und dies mag auch zum Teil an seiner letzten Niederlage schuld gewesen sein. Der Sieger, der über ein Vierteljahrhundert lang allgemein für den ersten Schachmeister der Welt galt, Wilhelm Steinitz, ist 1837 zu Prag geboren, machte schon nach 1860 in der Wiener Schachgesellschaft von sich reden, kam 1862 nach London und 1884 nach New York. Wie er Zukertort schlug, so hat er auch später den Russen Tschigorin, den stärksten Spieler des Czarenreichs, in zwei Wettkämpfen 1889 und 1892 geschlagen. Und erst in den letzten Tagen hat der Meister seinen Meister gefunden in dem noch nicht sechsundzwanzigjährigen Neumärker Emanuel Lasker, gegen den er in einem gewaltigen Match zu New York, Philadelphia und Montreal unterlag. Lasker, geboren am 24. Dezember 1868 zu Berlinchen, ist von Beruf Mathematiker und hat außer diesem jüngsten und glänzendsten bereits eine ganze Reihe von Erfolgen auf dem Schachbrett errungen.

Von älteren Schachmeistern erwähnen wir noch den stillen bescheidenen Louis Paulsen (1833 bis 1891), der seit 1854 in Amerika lebte, seit 1861 in Nassengrund, Lippe-Detmold; er war Sieger in zahlreichen Turnieren und Wettspielen, auch mit Anderssen, und ein ausgezeichneter Blindlingsspieler, als welcher er besonders in Amerika Aufsehen erregte.

Von der nachstrebenden begabten Jugend hat sich außer Lasker Siegfried Tarrasch, geboren 1862 zu Breslau, jetzt Arzt in Nürnberg, großen Ruf erworben, da er in drei Turnieren hintereinander, in Breslau 1889, in Manchester 1890 (beide Male ohne Verlustpartie) und in Dresden 1892, den ersten Preis errang. Doch auch andere Namen jüngerer Meister verdienten hier genannt zu werden, denn alljährlich tauchen neue Talente auf und die auswärtigen Meister gehen jetzt mit Zagen zu einem deutschen Turnier, wo ihnen stets neue, hochbegabte und oft siegreiche Spieler entgegentreten.


Skizzen aus dem häuslichen Leben.

Von Hans Arnold.
Unsere Flora.

Diese Flora ist jedenfalls eine Herbstflora!“ hatte der Hausherr mit etwas schmerzlich verzogenem Gesicht gesagt, als unsere damals „neue“ Köchin von ihm bei Gelegenheit der polizeilichen Anmeldung beaugenscheinigt wurde.

Wir übrigen Anwesenden waren mit dem Familienhaupte darüber einig, daß Flora dem Auge nichts Bestechendes darbot. Sie war so über Lebensgröße geraten, daß wir sämtlich das Gefühl hatten, sie thäte besser, in Lieferungen zu erscheinen, und ihre Gesichtszüge waren, der ganzen Erscheinung entsprechend, auch so groß und auseinandergezerrt, daß man zunächst auf den Gedanken kam, sie mache nur Spaß und werde ihr richtiges, ernstgemeintes Gesicht bei passender Gelegenheit erst zum Vorschein bringen.

Jung war Flora auch nicht mehr – wenn auch jedenfalls jünger als jene Dame meiner Bekanntschaft, der von ihren Zeitgenossinnen aus Anlaß ihrer späten Verlobung der Vorwurf gemacht wurde: „Sie spielt sich auf die Vierundfünfzigjährige.“

Nach kurzer Zeit machten wir die Entdeckung, daß unsere Flora – sie hieß übrigens Flora Gewölke, wie ich den Lesern nicht vorenthalten will – also daß unsere Flora eigentlich zur Fauna gehörte, indem sie nämlich ein Drache war. Der kräftige Zug in ihrem Wesen wirkte aber insofern wohlthuend, als ihre Vorgängerin an den entgegengesetzten Eigenschaften gelitten hatte. Diese hatte sich beständig in Thränen und Seufzern aufgelöst – hatte mit unberechtigtem Pessimismus erklärt: „Wenn ich meinen Sonntag habe, regnet es immer!“ und konnte beim Anblick der ihr zum Reinigen überlieferten Wäsche mit einem dumpfen Wehelaut zusammenbrechen: „Ach – was Wäsche!“

Nach dieser trauernden Muse war, wie gesagt, die frische Unternehmungslust unserer Flora sehr angenehm. Sie bezeichnete ihre Eigenart bereits beim Dienstantritt selbst mit den Worten: „Ich bin ein Russe und arbeite wie ein Pferd,“ berechtigte also zu den schönsten Hoffnungen. Da sie nebenbei – oder nicht nebenbei – vorzüglich kochte, so lebte die Familie alsbald sehr glücklich mit ihr. Allerdings konnte dies, der Wahrheit die Ehre, nur durch ein gänzliches Aufgeben der eigenen Selbständigkeit seitens der Hausfrau ermöglicht werden. Flora arbeitete wie ein Pferd, war aber auch eigensinnig wie ein solches und riß das Hausregiment, soweit es ihre Küche betraf, mit beispielloser Herrschsucht an sich. Sie kaufte alles ein, sie bestimmte den Küchenzettel und tobte bei Versuchen, ihr mild und vorsichtig „drein zu reden“, wie ein riesiges Unwetter in der Küche umher. Als die Hausfrau, mit einem letzten, schüchternen Versuch, ihre rechtliche Stellung zu wahren, die Dreistigkeit begangen hatte, ein Suppenhuhn eigenhändig zu erstehen, stieg Floras Empörung ins Maßlose, und sie erklärte das Huhn für bucklig, da sie außer stande war, ihm sonstige Schlechtigkeiten aufzubürden. Die Gegenvorstellung, daß es bei einem Huhn mehr auf zartes Fleisch wie auf tadellosen Wuchs ankäme, prallte wirkungslos ab, und die Hausfrau konnte nur durch das feierliche Gelübde, „es nie wieder zu thun“, unsere Flora wieder in einen erträglichen Zustand versetzen.

Flora war Witwe. Wie ihr Ehestand gewesen, ob sie den seligen Gewölke geprügelt hatte oder er sie, darüber brachten wir nichts in Erfahrung. Flora erzählte nur der Hausfrau beim gemeinsamen Bereiten eines Kartoffelsalats – eine Beschäftigung, die für Köchinnen so sicher das Signal zu Vertrauensergüssen ist wie für Backfische ein Spaziergang im Mondschein – also bei dieser häuslichen Beschäftigung erzählte Flora der Hausfrau von ihrer Hochzeit und fügte die Versicherung bei: „Ich war die schönste Braut, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe,“ was wegen mangelnden Gegenbeweises natürlich blind geglaubt werden mußte.

Jedenfalls hatte der selige Gewölke nie über schlechtes Essen zu klagen gehabt, was ja die erste Grundbedingung zu einer glücklichen Ehe sein soll – und so konnten wir denn annehmen, daß Gewölkes eine Musterehe geführt hatten, um so mehr, da Flora wirklich ein grundbraves Geschöpf war. Eine der besten Seiten unserer Flora war ihre blinde und zärtliche Liebe zu den Kindern des Hauses. Vom „jungen Herrn“, dem Sekundaner, an, dem sie den Scheitel machen mußte, bis zum Kleinsten, dem sie Aniskuchen buk, liebte sie die ganze Kinderschar glühend, und diese Neigung wurde von deren Gegenständen aufs leidenschaftlichste erwidert. Gingen die Eltern in Gesellschaft, so war es das größte Fest für die Kinder, wenn Flora sich zu ihnen gesellte und mit ihnen „Glock’ und Hammer“ um Backpflaumen spielte oder mit ihnen tanzte, wobei sie vermöge ihrer riesigen Körperkräfte stundenlang zugleich Orchester und Tänzerin war und mit brüllender Stimme, ohne zu ermatten, den Walzer vom „Mann mit dem Koks“ ertönen ließ. Diese Freuden waren für die Kinder so entzückend,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_440.jpg&oldid=- (Version vom 27.6.2023)