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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


„Nein – wenigstens nicht so, wie Sie denken!“ Er hatte sich auf den Sitz neben sie geworfen, umschloß von neuem ihre Hände, die er hielt, als habe er sein Eigentum ergriffen, das er nie wieder fahren lassen wollte. „Du sollst mir gehören!“ sagte er fest.

Johanna warf sich zurück: „Sie sind wahnsinnig!“

„Ich bin sehr bei Sinnen,“ sagte Ernst mit plötzlicher Ruhe. „Was ich denke und will, ist nicht von heute. Wir beide sind nicht von dem Schlage, Lug und Trug zu üben, doch vertraue ich, daß wir auch nicht zu feige sind, das Erreichbare zu wollen, sobald wir wissen, daß es ums Leben geht. Mir, Johanna, geht es ums Leben!“ Wieder drängten sich die Worte stürmisch aus hochatmender Brust. „Ich habe alles, was nicht Du bist, hinter mir gelassen, ich will nicht auf Dich verzichten, und Du kannst das ebensowenig, denn auch Du bist aus den Fugen, kein Gestern kann uns mehr gelten. Entsinne Dich des letzten Gesprächs vor Deines – vor seiner Abreise. Entsinne Dich des Nachdruckes, mit dem er versicherte, daß er die Frau, die ihre Freiheit von ihm forderte, niemals halten würde. Und nun sage mir, bei allem, was Dir heilig ist, glaubst Du, daß er aus wirklicher Ueberzeugung so sprach?“

Johanna erblaßte. „Ich glaube es – er sprach so nicht zum erstenmal.“

„Ich glaub’ es auch! Und damit ist unser aller Zukunft entschieden. Dieser Mann verdient Offenheit; gegen ihn, der groß denkt, klein zu handeln, wäre Verbrechen an uns, an ihm. Du antwortest nicht, Johanna? Aber liebst Du denn nicht? Könntest Du mit ihm so weiter leben, magst Du nun verschweigen oder gestehen? Sieh’ mir in die Augen und wage zu sagen, daß Du es kannst!“ Er ließ sie los, sprang auf, umfaßte plötzlich ihr weiches Gesicht mit beiden Händen und preßte seine Lippen heiß und fest auf die ihren, nur einen Augenblick.

„Jetzt bist Du mein!“ rief er, „und jetzt gelobe ich Dir, Dich nicht wiederzusehen, ehe sein Wort Dich frei macht. Ehrlich müssen wir bleiben. Auch täuschen will ich Dich nicht, Johanna: die Zukunft, der Du mit mir entgegen gehst, hat keinen so prächtigen Rahmen wie Deine Gegenwart.“

„Was läge daran!“

„Du willigst ein!“ jubelte er auf, und dann, sehr bestimmt: „So laß uns handeln! Ich schreibe ihm noch heute nacht und spreche von Mann zu Mann, wie ich es verantworten kann. Die Entscheidung liegt in seiner Hand. Soweit ich ihn kenne, ist entschieden, sobald er unser Bekenntnis gelesen hat. Du wirst gleichfalls sprechen, Johanna – zugleich muß er uns hören, wir können ihm seine schwere Stunde nicht ersparen, er wird sie, fern von uns, eher überwinden, behält Zeit, zu beschließen. Unser Vertrauen mildert den Schlag –“

„Vertrauen!“ wiederholte Johanna und sah ihn an.

Ruhdorfs Stirn verdunkelte sich. „Wir dürfen die Augen vor ihm aufschlagen,“ sagte er fast heftig, „es ist ein großer Schmerz, eine Schmach ist es nicht. Mut, Johanna! Es gilt Stehen oder Fallen, lassen können wir uns nicht mehr.“ Er ging schnellen Schrittes auf dem Kieswege hin und her und sagte dann, immer noch mit verfinstertem Ausdruck: „Ich sende morgen früh jemand, Deinen Brief abzuholen, um ihn dem meinigen beizuschließen.“

„Nein, nein! Nicht Sie – von meiner Hand! – sonst geschieht ihm noch weher.“

Ernst blickte sie eine Sekunde verständnislos an, der Zug von Unzufriedenheit in seinem Gesicht verschärfte sich. „Wie Sie wollen, Johanna. Nur muß ich darauf bestehen, daß unser Wort zugleich an ihn gelangt. Legen Sie Wert darauf, die Adresse selbst zu schreiben, gut, so erhalten Sie meinen Brief zum Beischluß.“

Johanna sah furchtsam zu ihm auf und stimmte nur mit einer Kopfbewegung bei. Etwas Hilfloses, Ergreifendes drückte sich in ihrer Haltung, ihrer Miene aus. Ruhdorf machte eine rasche Bewegung, als wollte er sie an sich ziehen, ließ die Arme jedoch wieder sinken und sagte in gedämpfter Leidenschaftlichkeit: „Ich bin in Deiner Gewalt!“

Dann eilte er abwärts, der Straße zu. –

(Schluß folgt.)



Blätter und Blüten.


Gottfried August Bürger. (Mit Bildnis S. 405.) So manchem deutschen Dichter ist schon das Los widerfahren, daß die Nachwelt an ihm gutmachen mußte, was die Zeitgenossen an ihm gesündigt hatten. Freilich, an Gottfried August Bürger, dessen Todestag auf den 8. Juni 1794 fällt, hat niemand mehr gesündigt als der Dichter selbst; aber diese Versündigungen waren mit seinem Genie so eng verknüpft, daß wir ohne den gährenden Most seines Lebens nie den herrlichen Wein seiner Dichtung erhalten hätten.

Wir erinnern uns daran, wie er, eines Pfarrers Sohn, 1747 zu Molmerswende geboren, auf der Universität in Halle ein wüstes Leben führte, das er anfangs in Göttingen fortsetzte, bis er durch seine Freunde vom Göttinger Dichterbunde in ruhigere Bahnen gelenkt wurde, wie er fast immer mit des Lebens Not zu kämpfen hatte, als kleiner Justizamtmann, der auf den hannoverschen Dörfern wechselnde Stellen bekleidete, durch eine unglückliche Spekulation mit einer Pachtung sein kleines Vermögen verlor, infolge verleumderischer Anklagen und Zwistigkeiten mit der Regierung aus dem Justizdienst austrat, dann Privatdocent und unbesoldeter außerordentlicher Professor in Göttingen wurde – lauter dürftige Anstellungen, die ihn nötigten, rastlos mit der Feder zu arbeiten und durch Uebersetzungen sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Und mit dem zunehmenden Alter nahm des Lebens Not zu, und in fortwährender Bedrängnis, die noch durch die Angst und die Beklemmungen eines Brustleidens gesteigert wurde, ging er einem frühen Tod entgegen.

Wir erinnern uns, welche Kämpfe innerer Leidenschaften er in seinem Liebes- und Eheleben durchzumachen hatte, wie seine anfangs glückliche Ehe mit Dorette Leonhart zerrüttet wurde durch seine Liebe zu seiner Schwägerin Auguste, der er als seiner „Molly“ so begeisterte dichterische Huldigungen darbrachte. Und als er nach Dorettes Tod Molly geheiratet hatte, starb auch diese bald darauf, und in einer dritten Ehe mit dem überspannten „Schwabenmädchen“ Elise Hahn, die ihm ihre Bewunderung in einem Gedicht ausgesprochen, wurde er so unglücklich, daß er bald auf Scheidung antragen mußte. Sie aber, die dritte Frau Bürger, dichtete und schrieb Romane und ging noch lange nach Bürgers Tod als Deklamatorin durch das Land.

Wir erinnern uns, wie Schillers scharfe Kritik der Bürgerschen Gedichte den vielgequälten Poeten niederschmetterte, wie die Verteidigung derselben durch A. W. von Schlegel ihnen kaum günstiger war als die Schillersche Anklage, wie selbst Goethe, dessen „Götz von Berlichingen“ den Göttinger Dichter zu einigen Strophen seiner „Lenore“ begeistert hatte, sich sehr hart über ihn und die Verschlechterung des Geschmacks aussprach, die durch seine Gedichte hervorgerufen worden sei.

Welch eine Summe von persönlichem Leid und Weh, bitterer Kränkung, unseliger Zerrüttung, die sich in diesem Dichterleben zusammendrängt! Und doch – aus diesem Knäuel von Wirrsalen spann sich ein Faden heraus, der in die Zukunft reichte; aus diesem überwuchernden Unkraut von Mißgeschicken blühte doch eine Blume der Dichtung hervor, deren Duft noch die Nachwelt entzückte!

An der Jahrhundertfeier von Bürgers Todestage gedenkt unser Volk des unglücklichen Volksdichters; der Sänger der „Lenore“ bleibt ihm unvergeßlich!

In der That, selten hat ein einzelnes Gedicht einen Dichter berühmt gemacht – mit „Lenore“ war dies der Fall! Alles, was sonst der Göttinger Dichterbund geschaffen, lebt nur noch in den Herbarien der Litteraturgeschichte. „Lenore“ blüht mit einigen anderen Bürgerschen Gedichten frisch und unverwelklich fort.

„Lenore“ ist eine der besten deutscheu Balladen. „Um der Lenore willen allein,“ sagte Schlegel, „würde Bürger unsterblich sein.“ Und gerade an diese Ballade knüpft sich noch heutigestags in erster Linie Bürgers Volkstümlichkeit. Hier folgte er, wie ein anderes Urteil sagt, am kühnsten und übermütigsten dem blinden Zuge des Genius und scheint der Shakespeareschen Natur und Urkraft nahezukommen.

Die „Lenore“ hat Bürgers Ruhm begründet; aber sie erschöpft ihn nicht, auch andere seiner Gedichte leben im Volke fort. Und was ihre Vorzüge betrifft, so hat sie niemand mit treffenderen Worten anerkannt als Schiller gerade in jener bösen Kritik, in welcher er dem Dichter Mangel an Reife und an Vollendung vorwirft; er erkennt indes an, daß in der Balladendichtung nicht leicht ein deutscher Dichter es Bürger zuvorthun werde, er rühmt die Fülle poetischer Malerei, die glühende energische Herzensprache, den bald prächtig wogenden, bald lieblich flötenden Poesiestrom, der seine Produkte so hervorragend unterscheide, endlich das biedere Herz, „das, man möchte sagen, aus jeder Zeile spricht“.

So urteilt Schiller, ein Gegner der Volksdichtung, die ja manches aufnimmt, was nach seiner Ansicht an das Platte und Gemeine streift. Und wenn wir neben der „Lenore“ die rührende Ballade „Des Pfarrers Tochter von Taubenhain“ erwähnen, das „Lied vom braven Mann“, das in der That hoch wie Orgelton und Glockenklang klingt, die köstliche Anekdote „Der Kaiser und der Abt“ und das stürmische Lied vom „Wilden Jäger“, so genügt dies wohl, um zu beweisen, mit welchen dauernden Gaben Bürger den Hausschatz unserer Poesie bereichert hat.

Mit stiller Rührung aber wird man des armen Poeten gedenken, dessen Genius im Kampf mit Armut und Not nicht verkümmerte. Ja, Bürger ist zeitlebens ein armer Poet geblieben; das Schicksal gab ihm

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