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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Buchstaben und Nerven.

Hygieinische Skizze von C. Falkenhorst.


Mit der Zunahme der Volksbildung sind Lesen und Schreiben zu unentbehrlichen, ja selbstverständlichen Fertigkeiten des Kulturmenschen geworden. Die Zahl der „Analphabeten“, d. h. derer, die diese Fertigkeiten nicht besitzen, schmilzt von Jahr zu Jahr zusammen, jedes Kind muß lesen und schreiben lernen. Das ist ein großer Kulturfortschritt, der tausendfachen Segen mit sich bringt; aber wie alles in der Welt, hat er auch seine Schattenseiten.

Wie leicht auch Lesen und Schreiben nach einmal gewonnener Uebung erscheinen mögen, sie sind doch eine Arbeit, welche Auge und Gehirn, ja den gesamten Menschen in hohem Maße anstrengt. Die Schäden des Lesens und Schreibens sind auch nicht spurlos an den Menschen vorübergegangen: ihnen haben wir in erster Linie die Zunahme der Kurzsichtigkeit, der Verkrümmungen der Wirbelsäule und die Vermehrung verschiedener nervöser Leiden zuzuschreiben. Die Gesundheitslehre hat darum seit geraumer Zeit auf diese so wichtigen Thätigkeiten des heutigen Menschen ihre Aufmerksamkeit gelenkt, eine Physiologie des Lesens und Schreibens zu schaffen gesucht. Durch Erteilen guter Ratschläge ist sie eifrig bestrebt, namentlich in der Schule zweckmäßige Schreib- und Lesemethoden einzuführen und so die gesundheitlichen Schäden zu mildern. Soweit der Schutz des Auges und des Rückgrats in Frage kommt, ist auf diesem Gebiete viel geleistet worden. Geklärt sind aber die Ansichten noch keineswegs, denn gerade gegenwärtig streitet man über die Vorzüge der Steilschrift im Vergleich zu der allgemein üblichen Schrägschrift.

Gar wenig erforscht sind aber bis jetzt die Wirkungen des Lesens und Schreibens auf das Nervensystem, und doch ist es notwendig, nicht nur das Auge, das Rückgrat und die Hand, sondern auch das Gehirn vor Ueberanstrengung zu schützen – notwendig namentlich in einer Zeit, in welcher über die Zunahme nervöser Leiden so viel geklagt wird.

Leute, die nur zum Vergnügen, zu ihrer Erholung lesen, werden vielleicht darüber lächeln, daß man von der „schweren Arbeit“ des Lesens spricht; Menschen, die berufsmäßig lesen und studieren müssen, wissen dagegen aus Erfahrung, daß durch diese Thätigkeit nicht nur das Auge, sondern auch der Geist ermüdet wird, und zwar in weit höherem Maße als durch das Schreiben. Kein Wunder! In wenigen Minuten durchfliegen wir die Spalte einer Zeitung; sie mag einen dürftigen Inhalt aufweisen, der wenig zu denken giebt, und doch haben wir in diesen wenigen Minuten eine höchst verwickelte, bei näherem Nachdenken staunenerregende Arbeitsleistung vollbracht. Auf dieser Spalte stehen Tausende von Buchstaben, die in ihren Gruppen Worte und fernerhin Sätze ergeben. Wir haben diese Buchstaben sehen und unterscheiden müssen, bevor wir den Sinn auffassen konnten. Tausende von Eindrücken sind in dieser kurzen Zeit durch das Auge in unser Gehirn gestürmt und diese „Lesereize“ haben dort Tausende von Vorstellungen geweckt, die wir zu Sätzen, zu Gedanken geordnet haben.

Man hat wiederholt versucht, festzustellen, wie rasch wir lesen können. Der berühmte Physiologe Preyer hat gefunden, daß er von einem in seiner Muttersprache gedruckten Buche beim schnellsten Lesen in einer Sekunde 30 bis 31 Buchstaben aufzufassen vermochte, eine Wahrnehmung, die auch von Grashey und Wernicke bestätigt wurde, indem sie ermittelten, daß beim schnellsten Lesen auf je einen Buchstaben im Durchschnitt die Zeit von Sekunden verwendet wurde. Diese Geschwindigkeit gilt aber nur für das Lesen in der Muttersprache; als Preyer Englisch las, faßte er nur 28 Buchstaben auf, im Französischen brachte er es auf 22, von der altgriechischen Schrift endlich vermochte er nur 15 Buchstaben in der Sekunde zu bewältigen.

Die Leichtigkeit, mit der wir zu lesen vermögen, wird aber auch durch die äußere Form der Buchstaben in hohem Maße beeinflußt; denn die Lesbarkeit der einzelnen Buchstaben ist sehr verschieden.

Dem Amerikaner James Mac Keen Catell gebührt das Verdienst, diese hochwichtige Frage durch eine Reihe mühevoller, 15000 Einzelbeobachtungen umfassender Versuche im Laboratorium von Professor Wundt in Leipzig in sehr lehrreicher Weise beleuchtet zu haben. Unter Zuhilfenahme sinnreicher Einrichtungen wurden einzelne Buchstaben dem Leser 1/100Sekunde lang sichtbar gemacht – selbstverständlich, ohne daß dieser wußte, welcher Buchstabe ihm erscheinen würde; er sah hin, gab an, was er gesehen und erkannt hatte; seine Treffer und Fehler wurden aufgeschrieben und so entstanden Listen für die Lesbarkeit der Buchstaben verschiedener Alphabete.

Am ausführlichsten wurden die großen lateinischen Buchstaben geprüft und es stellte sich heraus, daß unter 270 Versuchen W 241 mal, E dagegen nur 63 mal richtig erkannt wurde. W, Z, M, D waren die vier lesbarsten, F, U, J, E die vier am wenigsten lesbaren Buchstaben. Aehnliche Ergebnisse lieferten die Proben mit den kleinen lateinischen Buchstaben; unter 100 Versuchen wurde d 87 mal, k 84 mal, m 79 mal richtig gelesen, während dies bei c nur 34 mal und bei s nur 28 mal der Fall war. Sehr unlesbar erwies sich die deutsche Schrift. Von den kleinen Buchstaben erzielte w die meisten Treffer, denn es wurde unter hundert Fällen 42 mal richtig gelesen; bei f war dies nur 10 mal, bei i sogar nur 6 mal der Fall. Was die Lesbarkeit der einzelnen Buchstaben beeinträchtigt, ist nicht nur ihre Form, sondern auch die Aehnlichkeit mit anderen Buchstaben. So wurden die lateinischen Buchstaben O, Q, G und C oft miteinander verwechselt, während das deutsche i 11 mal als l, 10 mal als t, 5 mal als k und je 3 mal als x, f oder r gelesen und t 10 mal als k, 7 mal als l und 3 mal als r aufgefaßt wurde. Zu ähnlichen Verwechslungen gab auch die Gruppe der schlanken kleinen lateinischen Buchstaben i j l f t Anlaß.

Diese Fehler und Verwechslungen begehen wir tagtäglich beim Lesen, nur berichtigen wir sie schleunigst im Geiste, wenn wir merken, daß die herausgebrachten Worte keinen Sinn ergeben. Zunächst vollziehen sich die Richtigstellungen mit blitzartiger Geschwindigkeit, so daß sie uns gar nicht zum klaren Bewußtsein kommen; aber das Lesen wird infolgedessen doch anstrengender. Diese Berichtigungen nehmen verschwindend kleine Zeiträume in Anspruch, wenn wir aber die Tausendstel und Hundertstel von Sekunden zusammenrechnen wollten, so würden wir über die Größe der Zeit staunen, die wir tagtäglich vergeuden müssen, um uns in einem mangelhaften Alphabet zurechtzufinden. Und nicht nur die Zeit kommt dabei in Betracht! Wir verschwenden auch eine große Summe geistiger Kraft, strengen das Gehirn an, um zwischen den Fallen durchzuschlüpfen, die uns von den leicht zu verwechselnden Buchstaben gestellt werden.

Diese Fallen sind darum besonders lästig, weil wir in der Regel nicht buchstabierend, sondern erratend lesen. Hat der Blinde seine betastbare Schrift vor sich, so eilt er mit dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand voraus, um die Worte abzugrenzen, während die entsprechenden Finger der linken Hand über die Punkte gleiten und buchstabieren; aber nur ein Teil der Buchstaben wird dabei betastet, der Rest wird erraten. Ebenso gleitet das Auge des Sehenden über die Schriftzeichen hin, greift die auffallendsten Buchstaben heraus und aus diesen Eindrücken sucht der Geist das Wort zu ergänzen. Je mehr verwechselbare Buchstaben in einer Schrift vorhanden sind, desto mehr Irrtümern sind wir bei dem Raten ausgesetzt, desto mehr unnötige Arbeit muß unser Gehirn verrichten, und das ergiebt ein Mehr von Leistung, eine Summe von Vergeudung an nervöser Kraft, die in einer Zeit, wo an das Nervensystem die höchsten Anforderungen gestellt werden, schwer ins Gewicht fällt. Es wäre gewiß von unberechenbarem Vorteil, wenn man diesen Teil der Lesearbeit vereinfachen, die Fehlerquellen verringern könnte.

Mit Recht dringt man darauf, daß die Schrift eine bestimmte Größe habe, daß der Druck klar sich vom Papier abhebe; nun steht man vor der wichtigen Frage, ob man auch eine Aenderung der gegenwärtig gebräuchlichen Alphabete zum Heile des überbürdeten Gehirnes fordern solle. Das ist eine schwerwiegende, tief eingreifende Frage, die nicht in einigen Jahren und nicht in einigen Jahrzehnten gelöst werden kann, aber schließlich doch im Sinne der Reform gelöst werden wird.

Die Lautsinnbilder, welche die Menschen als Schriftzeichen benutzen, sind mangelhaft. Das ist durchaus nicht wunderbar, denn wir benutzen noch immer uralte Schriftzeichen. Die Erfinder der alten Alphabete hatten die erste Schwierigkeit besiegt, indem sie überhaupt Lautsinnbilder erfanden. Dieselben waren ursprünglich nur das geistige Gut eines auserlesenen Kreises, Lesen und Schreiben zählten nicht zum täglichen Handwerk. Jetzt ist das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_399.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2021)