Seite:Die Gartenlaube (1894) 022.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Die Martinsklause.
Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(1. Fortsetzung.)


2.

Nur mit spärlichen Lichtern drang die Morgensonne in den dichten, wirr verwachsenen Urwald, durch welchen Eberwein und Eigel auf mühsamen Pfaden niederstiegen. Ein leichter Windhauch, feucht und kühl, wehte zwischen den Bäumen und erfrischte die heißen Stirnen der Wanderer. Kein Wort wurde gesprochen. Eigel mußte all seine Aufmerksamkeit dran wenden, um unter den vielfach sich kreuzenden Wildsteigen, zwischen dem wirren Gerank und Unterwuchs den rechten Pfad zu halten. Und Eberwein war tief in Gedanken versunken, fast unbewußt seinem Führer folgend auf Schritt und Tritt. Was er gesehen und erfahren in diesen vergangenen Stunden, brauste ihm durch Herz und Seele wie ein Sturm. Ein schwerer Kampf stand ihm bevor, aber mit siegesfreudigem Mute sah er allem Kommenden entgegen.

Der Wald wurde lichter, und eine grüne Matte schimmerte durch die Bäume. „Da hauset der Gernreuter,“ sagte der Kohlmann. Eberwein erwachte aus seinem Sinnen. „Der Mann jenes unglücklichen Weibes? Führ’ mich zu ihm!“

Sie erreichten den Waldsaum. Eine weite sonnige Wiese lag vor ihnen, und in deren Mitte ein großer viereckiger Hag, dessen dichtes Flechtwerk fast von doppelter Mannshöhe war und von dem verwitterten Moosdach der eingeschlossenen Hütte nur einen schmalen Saum noch gewahren ließ.

„Ein Zaun wie eine Schanze!“ meinte Eberwein.

„Wohl wohl, Herr, so hoch muß der Hag sein, daß im Winter, wenn der Schnee steigt, die Wölf’ nicht drüber springen.“

Sie näherten sich und hörten das Grunzen eines Schweins und die lachenden Stimmlein zweier Kinder. Als sie die Ecke des Hags umschritten, erblickten sie zwei Knaben von etwa fünf und sieben Jahren, welche sich unter lustigem Balgen im Gras umherkugelten; all ihr Gewand war das dunkle Braun, das die Sonne auf ihre Haut gebrannt hatte; und daß das Wasser auch noch zu anderen Zwecken als nur zum Trinken geschaffen wäre, dessen schienen sich die beiden Knirpslein, wenn sie es überhaupt jemals gewußt hatten, seit geraumer Zeit nicht mehr erinnert zu haben. Als sie die näherkommenden Schritte hörten, hoben sie erschrocken die Struwwelköpfe und starrten mit weit aufgerissenen Augen den Mönch an, der ihnen lächelnd entgegentrat, die Hand zum Gruß gestreckt. „Gott grüß’ Euch, Kinderlein!“

Bevor jedoch Eberwein diesen Gruß noch ganz ausgesprochen hatte, erhob das jüngere der beiden Bübchen ein zeterndes Geschrei und flüchtete gegen den Hag; da hielt auch die bleiche Tapferkeit des älteren nicht länger stand, schreiend lief es hinter dem anderen her, in der blinden Angst überrannten sie sich und stürzten, einen Augenblick sah man vier nackte Beinchen in der Luft, sie rafften sich wieder auf, heulend und zeternd verschwanden sie im Hag und warfen hinter sich das Thor zu. Nun verstummte ihr Geschrei, und man hörte den hölzernen Riegel knarren.

Eberwein stand verlegen und ratlos, während Eigel aus vollem Halse lachte; dann ging der Kohlmann auf das Thor zu und rüttelte an den Bohlen. „Bauer! Heia, Bauer!“ rief er mit lauter Stimme, aber es ließ sich aus dem Gehöft keine Antwort hören. „Er wird mit dem Vieh auf der Weid’ sein. Laß gut sein, Herr, die machen nimmer auf.“

„Was mag sie nur so erschreckt haben?“

„Schau Dein Häs[1] an! Der Teufel und ein Pfaff, die sind allbeid schwarz, und Kinder machen halt keinen Unterschied.“

Eberwein lächelte. „Er wird manchmal auch den Großen schwer.“ Einen Blick noch warf er über Thor und Hag. „Zwiefaches werd’ ich erkämpfen müssen: Furcht bei den Wölfen und Vertrauen bei meinen Lämmern.“

Sie folgten dem ausgetretenen Fußpfad, der über die Wiese hinunterführte nach dem Waldsaum. Eigel hatte das Gehölz schon betreten; da blieb Eberwein stehen und griff nach der Ledertasche, die an seinem Gürtel hing; er hatte sie am verwichenen Abend in Bruder Wampos Händen gesehen – da war sie gewiß nicht leer. Er öffnete die Tasche. Zuerst kam ihr gewohnter Insasse, ein kleines in Schweinsleder gebundenes Büchlein, zum Vorschein; dann folgte ein weißes Brot, ein Stück gebratenen Wildprets und eine Handvoll roter Kirschen. Eberwein eilte zum Hag zurück, ließ sich auf die Knie nieder, und durch den schmalen Spalt, der unter dem Thor sich zeigte, schob er Brot und Fleisch und Kirschen in das Gehöft. Der scheue Klang eines wispernden Kinderstimmleins ließ sich vernehmen. „Lueg, Wasli, da lueg hin …“

Lächelnd erhob sich Eberwein. „Für Kindersinn muß auch Gottes Liebe eine verständliche Sprache wählen.^ Und eilenden Schrittes suchte er den Kohlmann einzuholen.

Der Wald, der die Wanderer aufnahm, wurde freundlicher, je weiter es zu Thal ging. Viehsteige liefen kreuz und quer – unter den Buchen gab es saftige Weide – und manchmal verrieten splitterige Baumstümpfe, daß hier schon die Axt gewaltet hatte. Aus der Tiefe des Waldes quoll ein dumpfes Rauschen herauf. Immer näher klang es, und als der Pfad, dem die beiden folgten, auf die Höhe einer steil thalabwärts ziehenden Bergrippe lenkte, senkte sich vor Eberweins Blicken eine tiefe Schlucht, darin ein schäumendes Wasser floß. „Das ist der Albenbach,“ sagte Eigel.

Der Pfad verließ den Rand der Schlucht nicht mehr; bald lenkte er vorüber an engem Geklüft, in dessen Tiefe ein Dunkel herrschte, daß man nur matt noch das weiße Wasser schimmern sah; bald wieder führte er um breite Kessel, in denen das Wasser über hohe Felsstufen niederbrauste oder große stille Tümpel bildete, darin sich ein Stücklein blauen Himmels und die sonnbeglänzten Buchenwipfel spiegelten. Bei einer Wendung des Pfades blieb der Kohlmann stehen. „Heut’ wimmelt ja der ganze Berg von Leut’,“ sagte er und deutete durch eine Lücke des Gezweiges hinunter in die Schlucht, „da ist schon wieder einer! Und ich mein’, es ist der Fischer – freilich, er hat ja die Angelrut’!“

„Der Fischer? Jener Sigenot?“ fragte Eberwein und trat mit raschem Schritt an Eigels Seite. In der Tiefe der Schlucht, jenseit des Baches, welcher hier in breiterem Bett um die Felsklötze rauschte, stand, mit der Angelrute, ein junger Mann von hohem, kraftvollem Wuchs. In dichten Strähnen quoll das braune Haar unter der pelzverbrämten, mit einer langen Schwanenfeder gezierten Lederkappe hervor und schwankte um die Wangen; das dem Wasser zugeneigte Gesicht war nicht zu erkennen, denn bläulicher Schatten lag darüber – man sah nur, daß ein junger Bart, etwas lichter als das dunkle Haupthaar, die Lippen und das Kinn umsproßte. Ein ledernes Wams, ohne Aermel, farblos und verwittert, umschloß die breite Brust, und ein plumper Gurt, an dem ein kurzes Messer in hölzerner Scheide hing, umspannte die Hüfte. Das aus rauhhaariger Kotze geschnittene Beinkleid ließ die Knie nackt, und zottige Fellstücke waren mit Riemen um die Waden geschnürt; ihm zu Füßen lag das hölzerne Fischlägel; der aufdampfende Wasserstaub, farbig schimmernd in der Sonne, verhüllte zuweilen die ganze Gestalt des Fischers.

„Heia, Sigenot!“ schrie der Kohlmann; aber der Fischer rührte sich nicht, das Rauschen des Wassers verschlang den Ruf.

„Er kann Dich nicht hören, steig’ zu ihm hinunter,“ sagte Eberwein, „und führ’ ihn her zu mir, ich will ihn kennenlernen.“

Eigel griff nach den Aesten, um sich hinausgleiten zu lassen über den Hang der Schlucht. Da hob der Fischer die Augen, aber nicht zu den beiden, sondern empor zur Höhe des Baches. Er schien dort oben etwas gewahrt zu haben, was ihn jäh um alle Ruhe brachte. Die Angel aufschnellend, sprang er mit flinkem Satz auf einen hohen Felsblock und deckte spähend die Hand über die Augen. Und dann, zurückspringend an das Ufer, haschte er den Riemen des Lägels, schwang das vom Wasser triefende Fäßlein auf den Rücken und eilte über den steilen Hang der Schlucht hinauf, als wär’ es ebener Grund und müheloser Weg. Hinter schlagendem Gezweig, durch welches er sich hindurchgeworfen hatte, verschwand er.

„Was sagst, Herr? Weg ist er – und den holen meine alten Füß’ nimmer ein!“ brummte der Kohlmann. Da sah er, daß auch Eberwein emporblickte zur Höhe. „Was mag denn nur da droben sein?“ fragte er und drückte die Zweige zur Seite, die ihm den Aufblick verwehrten. Hoch droben, am Rand einer Felsplatte, welche sich über das tief abfallende Geklüft hinausstreckte,

sah er ein Pferd erscheinen – den Rappen, der die rote

  1. Gewand.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_022.jpg&oldid=- (Version vom 20.2.2019)