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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Luft. Wohlthuende Abendkühle umhaucht uns und führt uns den würzigen Duft der Feldgewächse zu. Das Gezirp der Grillen stört nicht den Eindruck der Einsamkeit, und das Liedchen der Dorngrasmücke, die vom Blüthenschnee des Dornstrauchs mehrere Fuß hoch flatternd und zögernd und dann wieder in Zickzackwendungen emporsteigt, trägt zur Vollendung der Stimmung bei. Jetzt erhebt sich eine Lerche in schiefer Richtung aus dem Dunkel der Saat. Die Töne aus ihrer Kehle klingen unserem Ohre in der Nähe etwas scharf und schrill, aber wohlthuender berühren sie unser Ohr, sobald sich die Sängerin in bogenförmigen Windungen zur Höhe gleichsam emporgeschraubt hat.

Nachtigallen im Wettgesang.
Nach einer Zeichnung von Adolf Müller.

Auffallend erscheint dem verfolgenden Auge der Umstand, daß die Schraubenwindungen des Aufflugs von der Rechten zur Linken gehen, während eine andere benachbarte Lerche umgekehrt verfährt, eine dritte mit diesen Windungen nach der einen und andern Richtung abwechselt. Ununterbrochen nimmt dabei der Gesang seinen Fortgang, und kaum hält man es für möglich, daß die Sängerin dabei den nöthigen Athem schöpfen kann. Aber man betrachte die der Lerche zu Gebote stehenden Werkzeuge: diese starke gewölbte Brust, diesen feinen, freien Hals, diese großen kräftigen Schwingen, die den Flug nach oben ungemein fördern. Man beobachte den stürmischen Drang der Vogelseele, sich zu erheben hinauf in den reinen Aether, zu den Wolken, das leicht erregbare Gemüth, das sich selbst im Gange, in der Haltung und in dem beweglichen Spiele der Kopffedern kundgiebt! Das alles erklärt die ungewöhnliche Kraftäußerung der kühnen Luftsteigerin. Das Lied der Lerche sprudelt mit wahrhaft elementarer Gewalt hervor. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß es eine in engen Grenzen sich haltende Melodie, eine ewig wiederkehrende, im Einerlei fortgesponnene Weise ist. Die Töne an sich sind schwirrende, trillernde und flötende. Doch fällt dem verständnißvollen Hörer nicht bloß bei dem Vergleich der einzelnen Exemplare, sondern auch bei dem der Bewohner der Ebene einerseits, der Gebirgsgegenden andererseits ein merklicher Unterschied auf. Wohl kommen auch in der Ebene vorzügliche Sänger vor, aber die besten haben wir doch immer im Gebirge gehört. Die Ebene birgt vorzugsweise solche Lerchen, die sich in schwirrendem und trillerndem Gesang ergehen, während das Gebirge viele aufweist, welche klangvollere Flötenpartien und interessantere Wendungen, größeren Tonumfang hauptsächlich in der Tiefe und reichere Abwechslung bekunden. Offenbar ist die Ursache darin zu suchen, daß im Gebirge, wo die Felder kleiner sind und in der Nähe der Wälder liegen, die Lerchen vieles von den Waldsängern annehmen und in ihr eigenes Lied verweben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_353.jpg&oldid=- (Version vom 6.4.2024)