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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

rückwärts gewendet, einen stummen Gruß herüber, dann war sie verschwunden.

Mit feuchten Augen hatte Rott ihr nachgeblickt, ohne einen Versuch zu machen, sie zu halten oder zurückzurufen; jetzt, als ihre Gestalt seinen Augen entschwunden war, schickte er sich an, den Ort zu verlassen, wo seine Träume von Glück begonnen und geendet hatten. Langsam schritt er den Hügel hinab, ein trostloser Mann. Das Einzige, was er klar empfand, war der Gedanke, daß er fort müsse, hinaus in die Welt, gleichviel wohin!

*      *      *

Ewald fand seine Frau an diesem Tage erfreulich verwandelt. Zwar war ihr Gesicht bleich, aber es lag ein freundliches Lächeln darauf; während des Frühstücks sprach sie in herzlichem Tone mit ihm. „Nun mag alles, was hinter uns liegt, vergeben und vergessen sein,“ sagte sie, als sie sich vom Tische erhoben, „wir wollen fortan als gute Kameraden durchs Leben wandern.“

Und Bettina berieth mit ihrem Manne, was zu geschehen habe, um ihr Leben in eine andre Bahn zu lenken. Sie war der Ansicht, daß es für Ewald das Beste sei, wenn er seine frühere Stellung als Lotse wieder einnehme. Er stimmte ihr lebhaft bei, bezweifelte jedoch, ob der Kommandant ihn jemals wieder anstellen werde.

„So will ich den Versuch wagen, ihn milder zu stimmen,“ rief Bettina und erhob sich.

„O, wenn Du das wolltest, Betty!" Ewald sprang auf, erfaßte ihre Hand und schüttelte sie kräftig. „Seit ich den Dienst verlassen habe, war mir wie dem Fische zu Muthe, den die Welle auf den Strand geworfen hat. Und darum habe ich lauter Dummheiten gemacht.“

Bettina mußte über sein eifriges Bekenntniß unwillkürlich lächeln. „Gut also,“ sagte sie dann, „ich will gleich zur Frau des Kommandanten gehen und ihr meine Dienste als Musiklehrerin anbieten. Wie ich höre, möchte sie ihre beiden Töchterchen im Klavierspiel unterrichten lassen. Vielleicht nimmt man mich drüben gut auf und ich kann gelegentlich für Dich sprechen.“

Das Glück war Bettina günstig. Der Kommandant befand sich vor einer leidigen Entscheidung: entweder mußte er eine Erzieherin für seine beiden jüngsten Kinder nach Massow kommen lassen oder diese zu den Großeltern senden. Eben besprach er, im Garten auf und ab gehend, mit seiner Frau, welcher von beiden Fällen noch der erträglichere sei, als Bettina in bescheidener Haltung eintrat. Der Kommandant zog die Stirn kraus und flüsterte seiner Frau zu: „Was sucht denn die hier? Wenn sie hofft, daß ich mich in ihre zerfahrenen häuslichen Angelegenheiten mische, dann irrt sie sich; sie war gewarnt – –“

Bettinas Gruß fand eine höfliche aber kühle Erwiderung: „Sie wünschen, Frau Monk?“

„Ihnen einen Vorschlag zu machen, Herr Kommandant. Vom Schullehrer hörte ich, daß Sie eine Erzieherin für Ihre jüngsten Kinder suchen, um diese vorzugsweise im Klavierspiel unterrichten zu lassen. Ich traue mir die Fähigkeit zu, Kinder in der Musik zu unterweisen, auch in anderen Fächern. Wollten Sie es mit mir versuchen – gewiß, ich würde mir redlich Mühe geben, Ihr Vertrauen zu rechtfertigen.“

Die Gesichter des Ehepaars hellten sich bei diesem Vorschlag merklich auf und ihre Zurückhaltung machte einem freundlichen Entgegenkommen Platz. „Das trifft sich gut,“ versetzte die Hausfrau, „das ist ein Vorschlag, der uns aus einer gewissen Verlegenheit befreien könnte, nicht wahr, lieber Mann? Wir besprachen soeben diese Sache und waren allerdings halb und halb entschlossen, uns nach einer Erzieherin umzusehen ... Aber wie ist mir denn? Es kamen uns Gerüchte zu Ohren, als hätten Sie die Absicht, Massow zu verlassen? Herr Rott – – “

Bettina schlug die Augen nieder und sagte: „Ich bleibe hier. Herr Rott verläßt Schloß Lindstrom oder hat es schon verlassen.“

„Verzeihen Sie,“ fiel der Kommandant mit einem verweisenden Blicke auf seine Gattin ein, „daß wir Dinge beruhrten, welche im Grunde nichts mit unsrer Angelegenheit zu thun haben.“

„O doch, Herr Kommandant; ich begreife, daß eine Mutter genau wissen will, wem sie ihre Kleinen anvertraut. Aber hätte ich mein Gewissen mit einer Schuld belastet, so würde ich nie gewagt haben, Ihre Schwelle zu überschreiten, um Ihnen mein Anerbieten zu machen.“

„Das wir mit Freuden annehmen,“ sagte die Hausfrau und streckte Bettina beide Hände entgegen. Man verabredete nun die näheren Bedingungen, unter welchen der Unterricht stattfinden sollte, und ließ die Kinder kommen, um die Lehrerin zu begrüßen. Schon am nächsten Tage sollte für Bettina die neue Thätigkeit beginnen.

(Schluß folgt.)




Der Chauvinismus.

Von Dr. E. Mühling.

Auf der alten Welt lastet am Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Erwartung zweier Ereignisse wie ein lähmender Alp: die Furcht vor dem sozialen Umsturz und die Furcht vor dem nächsten Kriege. Beide Ereignisse erscheinen allen europäischen Völkern als furchtbare Katastrophen, die eine Geschichtsentwicklung von Jahrtausenden abschließen und ihre Schöpfungen vernichten würden. Diejenigen, welche die Verwirklichung des sozialdemokratischen Ideals für möglich und erstrebenswerth halten, erwarten zum großen Theile vom nächsten Kriege die Erfüllung ihrer Hoffnungen. Und doch beben sie vor dem Gedanken dieses europäischen Völkerbrandes und vor dem unsäglichen Unglück zurück, das ihm folgen muß. Auch sie predigen den Frieden, wie viel mehr alle anderen Schichten des Volkes! Von den Thronen der Fürsten und den Kanzeln der Kirchen, von den Rednerbühnen der Parlamente, aus den Tempeln der Wissenschaft und Kunst und aus den Werkstätten der industriellen Arbeit steigt kein inbrünstigeres Gebet zum Himmel empor als das um Frieden.

Woher kommt es nun, daß durch die Einmüthigkeit dieser Friedenssehnsucht die Furcht vor dem Kriege nicht erstickt wird? Woher kommt es, daß der einzelne an der Erfüllung eines Wunsches zweifelt, von dem er weiß, daß er alle beseelt? Krieg oder Frieden – fließen sie nicht aus dem freien Entschluß der Völker und ihrer Fürsten? Sind wir machtlos gegen irgendwelche dunkle Schicksalsmächte, welche unabhängig von uns die Räder der Weltgeschichte treiben, und wird der Wille der ganzen Menschheit unter ihrem eisernen Drucke zermalmt?

Ich kann mich zu einer so traurigen Geschichtsauffassung nicht bekennen. Wäre dem so, dann wäre kein Fortschritt ein Verdienst und kein Rückschritt eine Schuld, der Fatalismus würde seine dunkle Fahne längst weit hinausgetragen haben über die Grenzen des ottomanischen Reiches, und dumpf und thatlos würden die Völker in ihrem Schatten dahinleben.

Nein, der Wille der Menschheit bestimmt ihre Schicksale. Ich will damit natürlich nicht behaupten, daß die Weltgeschichte von Majoritäten gemacht werde. Wenn irgendeiner, so muß der Forscher, der die Ursachen der Ereignisse sucht, die Stimmen wägen und nicht bloß zählen, und der Einfluß des Einzelwillens hängt von der Macht des Wollenden ab. Wenn aber ein Wunsch so einmüthig von Mächtigen und Ohnmächtigen gehegt wird wie der Wunsch nach der Erhaltung des Friedens, dann muß dieser Wunsch auch in Erfüllung gehen. Die Furcht vor dem Kriege kann deshalb in unsrer Friedenssehnsüchtigen Zeit nur in dem Gedanken ihren Grund haben, daß irgendwelche Leidenschaften, Bestrebungen, Pläne und Gelüste in mächtigen Einzelwesen oder größeren Massen irgend eines Volkes entstehen könnten, welche den Wunsch nach Frieden in ihnen ertöten und den Wunsch nach Krieg entflammen. Nicht dunkle Mächte sind es, die von außen her in die Geschicke der Menschheit eingreifen, sondern die Gefühle der Völkerherzen – wenn ich diesen Sammelausdruck gebrauchen darf – sind die Kräfte, welche ihre Schicksale bestimmen. Und wer nun unter dem Eindruck dieses Gedankens einen Blick in die Seelen der Völker wirft, der wird die Kriegsfurcht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_252.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2021)