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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


Schiffsreeder, denselben, der ihm einst Hafis geschenkt hat – springt mit der Behendigkeit eines Jünglings wieder aus dem Wagen, windet sich durch das Gedränge und klopft seinem Bekannten auf die Schulter, um sich dann in ein lebhaftes Gespräch mit ihm zu vertiefen.

Andree steht inzwischen auf dem Trittbrett und hat die Hand auf die halboffene Thür gelegt, Gerdas Gesicht ist ihm sehr nahe. Sie reden beide kein Wort. Sie hat seine Blumen zu ihrem Gesicht emporgehoben und athmet den Duft der Rosen ein. Er kann sie aber auf diese Weise nicht gut sehen, und darum nimmt er ihr ohne weiteres mit einer ungeduldigen Gebärde die Blumen aus der Hand und legt sie auf den Rücksitz.

Gerda schüttelt den Kopf und wendet sich ab – ihr sind die Thränen nahe, und das soll er doch nicht sehen.

„Mignon!“" sagt er ganz leise und nimmt ihre Rechte in seine beiden Hände. Und plötzlich ganz unvermittelt und ohne jedes vorbereitende Wort:

„Gerda – haben Sie mich lieb?“

Antworten kann sie jetzt nicht – das Glück macht sie stumm – aber er muß sie auch ohne das verstanden haben, denn er steigt rasch zu ihr in den Wagen, nimmt ihr Gesichtchen in seine beiden Hände und sieht ihr lange in die Augen. Dann zieht er sie an sein Herz, und so, glückselige Thränen vergießend, sagt Gerda es ihm ganz scheu und leise, daß sie ihn geliebt habe all diese Jahre hindurch.

Als Herr Grimm endlich auf eine dringende Mahnung des Schaffners hin einsteigt, findet er zu seinem großen Erstaunen noch einen dritten Reisenden darin - einen Reisenden, der gar keine Zeit für ihn hat und selbstsüchtig, wie alle glücklich Liebenden, ganz in seine eigenen Angelegenheiten vertieft ist. Aber Gerda macht eine Hand frei und reicht sie ihm: „Lieber, lieber Onkel Grimm!“

„Mein gutes Kind!“ erwidert er gerührt – dann, seine Weichheit rasch abschüttelnd: „Mir scheint, ich bin hier sehr überflüssig, aber, Kinder, daraus wird nichts! Mich werdet Ihr nicht los! Und wenn Ihr nicht in Hamburg leben wollt – ich ziehe mit Euch!“

Der Schaffner schlägt dröhnend die Wagenthür zu, und der Zug braust in den dämmernden Herbstabend hinein. Er führt drei Glückliche mit sich.


Sylvesterträumen.

Die zwölfte Stunde! Sie jubeln und schrei’n,
Und ich bin einsam und allein
Und denke vergangener Tage.
Die Jahre wechseln, mein Leben dorrt —
Das alte Bangen nimmt keins mit fort,
Das ich im Herzen trage.

Es ist noch die alte Stube genau;
Und in der Stube die alte Frau,
Die lebte zwölf Monde weiter.
Und er schon drüben, und ich noch hier —
Wann reichst du wieder die Hände mir,
Mein alter treuer Begleiter?

Ich lebe gern; mich freut die Welt,
Die Sonne, die mir den Tag erhellt,
Schneeflocken und Lenzerwachen;
Manch gutes Auge in mein’s wohl blickt —
Daß ich die deinen dir zugedrückt,
Dämpft ewiglich Lust und Lachen.

Sie merken’s der alten Frau nicht an,
Wie die so gar nicht vergessen kann,
Und was sie treibt in Gedanken:
Ich bin wie der ruhelos suchende Wind,
Im Straßenlärm ein irrend Kind,
Wie Wein, der nicht kann ranken.

Ein neues Lahr — und Glockengeläut —
Und was sich liebt, sitzt beisammen heut
Und feiert sein Glück, das große.
Mir wiegen die Glocken mein Herzeleid,
Sie schwingen wie einst in schwerer Zeit —
Ich halte dein Bild im Schoße.

Und was der alte Kasten da faßt,
Die Locke grau und die Briefe verblaßt,
Das haucht dein Leben lebendig;
Und die Züge da grüßen mich herzvertraut –
Viel klarer mein feuchtes Auge schaut
Deine letzten Blicke beständig.

So will ich sitzen und denken dein,
Von allen fern — doch nicht allein.
Ich will dich fassen und halten,
Will fühlen, wie mich dein Hauch umweht
Und wie durch die arme Seele geht
Der ewigen Liebe Walten.
 Victor Blüthgen.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 885. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_885.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2023)