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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


Wie ich Großmutter wurde.

Eine Weihnachtsgeschichte von E. Wuttke-Biller.0 Illustriert von Peter Schnorr.

Es ist nicht ganz natürlich zugegangen, daß mir der Himmel diesen reizenden kleinen Bengel, der mich Großmama nennt, einbeschert hat; denn – ich will’s nur gleich gestehen – ich bin ja eine alte Jungfer. Meinen süßen Dani kümmert es freilich nicht, ob meine Würde echt ist. „Aber soll ich meine großmütterlichen Ansprüche vor dem strengen Richterstuhle der Welt nicht rechtfertigen?“ fragte ich meine lieben Kinder. Die Eltern des kleinen Kerls lachten. „Ja, erzähl’s doch den Leuten!“ meinte der glückliche Papa, und die liebe Mama umschlang mich zärtlich. „Ach ja, erzähl’s!“ sagte sie; aber sie sagte es leise – ganz leise.

Ich besitze also die Erlaubniß und so schreibe ich denn.

Es ist nun schon zwanzig Jahre her. Ein dicker gelbgrauer Nebel lag schwer auf der Stadt, die Straßenlaternen brannten trübe und über einer jeden stieg ein Schattenkegel auf. Der Schnee fiel in großen breiten Flocken, die, sobald sie die Erde berührten, ihre zarte Form und glänzende Weiße zu häßlichem Straßenschmutze umwandelten.

Eine feuchtkalte Luft umspannte mit hartem Drucke die Kehle, und zu seinem Vergnügen hielt sich gewiß niemand im Freien auf; heute aber, am 24. Dezember, waren die Straßen noch mehr als sonst belebt. Aus den Schaufenstern strahlte die Pracht der Weihnachtsausstellungen, und die Leute drängten zu den überfüllten Läden hinein und wieder heraus. Wer seine Einkäufe noch nicht beendet hatte, mußte sich beeilen. Regenschirme geriethen in ärgerliche Konflikte. Entschuldigungen von höflichen Leuten wie ungeduldige Ausrufe der Eiligen flogen hin und her; aber wer wollte sich an einem solchen Abend ärgern? Ein jeder versuchte, sich möglichst schnell aus dem Gedränge zu winden und weiter zu hasten. Hinter einigen mit einem feuchten Hauch überzogenen Fenstern glitzerten schon die brennenden Lichterbäume.

Ich saß wohlgeborgen neben meiner Freundin Luise in einem Wagen und uns gegenüber ihr guter Mann. Meine Freunde fuhren zur Bescherung ihrer Mama; doch zuerst sollte ich an dem kleinen Hause auf dem Johannisplatze abgesetzt werden.

„Sei doch nur einmal inkonsequent, Anna, und begleite uns; Mama würde sich so freuen, wenn wir Dich als Weihnachtsüberraschung mitbringen würden,“ bat meine Freundin.

Der vernünftige Ehemann bemerkte dagegen: „Wie kann man seine Freunde mit Bitten quälen! Du weißt längst, daß Fräulein Anna es vorzieht, ihr Weihnachtsfest allein zu feiern; der Geschmack ist nun einmal verschieden.“

„Sie will nur ihren alten Erinnerungen einen Lichterbaum anzünden und das ist sentimental; ich wenigstens nenne diese Laune sentimental,“ grollte Luise.

„Ich überlasse es Deiner Freundschaft, mich sentimental oder eigensinnig oder ein Gewohnheitsthierchen zu nennen, liebstes Herz; jedenfalls wirst Du mich unter allen den lieben Menschea heute abend nicht vermissen.“

Der Wagen hielt. Freund Weber sprang hinaus, um mir behilflich zu sein, die vielen Päckchen, die Luise hinausreichte, ins Haus zu tragen.

„Noch einmal schönen Dank für Eure reizenden Geschenke und viel Vergnügen heute abend! Morgen mittag sehen wir uns bei Professors wieder.“

Luise zog sich mit schmollender Miene zurück. Wie oft sich diese kleine Scene schon abgespielt hatte! Jedes Jahr, nachdem mich meine Freunde mit reichen Gaben überschütteten, wurde sie von Luise aufgeführt.

Bis ich das zweite Stockwerk erreichte, hatte ich, beladen mit den vielen Päckchen, auf den steilen Treppen des altmodischen Hauses beinahe den Athem verloren.

Da oben aber, ans Treppengeländer gelehnt, stand schon einer mit keuchender Brust; es war Daniel Brun, der Gerichtsschreiber, der über mir in einer Dachstube wohnte. Seit bald dreißig Jahren war ich daran gewöhnt, ihn um diese Stunde in derselben Stellung zu treffen; bei seinem verwachsenen Körper fiel ihm das Steigen schwer, heut war er noch dazu mit Paketen beladen.

„Sie wollen sich heut wohl selber großartig einbescheren, Herr Brun?“ fragte ich, indem ich die Vorthür aufschloß.

„An so ’nem Abend will man doch nicht gern mit leeren Händen heimkehren, Fräulein Möller,“ entgegnete er, höflich den Cylinder abnehmend; er trug stets einen Cylinder. „Wir einsamen Leute wollen auch unser Weihnachten feiern. Sie bringen sich ja ebenfalls einen heiligen Christ nach Hause.“

Mir lag nichts daran, die Unterhaltung zu verlängern, denn ich wünschte noch allerhand Vorbereitungen zu treffen. Unser Gespräch dauerte niemals lang; ein paar Worte über das Wetter oder eine flüchtige Frage nach seiner Gesundheit, wenn das Pfeifen aus der verkümmerten Brust mich peinlich – ich möchte sagen unästhetisch – berührte, das war alles. Allein gegen seine sonst so bescheiden zurückhaltende Art trat heute der Schreiber näher.

„In unserm Hause werden nicht alle Leute glückliche Feiertage haben; der Ullmann“ – er deutete mit dem Finger nach oben – „hat seine Entlassung bekommen.“

„Nun, die hat der Mensch gewiß auch verdient; er ist ja dem Trunke ergeben.“ Ich sprach abweisend, hart und ließ die Vorthür nicht aus der Hand. Wenn Daniel Brun auf mein Mitleid rechnete, hatte er falsch spekuliert. Der Statist da oben mit seiner kupferigen Nase erregte stets mein Mißfallen. Sein Weib, das in schmutzigen, schleppenden Röcken die Straße fegte, war vor Jahresfrist gestorben; seit der Zeit führte der Mann sein einziges Kind, ein theaterhaft aufgeputztes Mädchen, stets selbst an der Hand; er schien demselben große Liebe zu erweisen, aber trotzdem mochte ich weder ihn noch das Kind leiden.

„Wenn der Mensch einmal so tief gesunken ist, kommt er nie wieder herauf; solchen Leuten ist nicht zu helfen,“ fügte ich streng hinzu.

„Ja, leider, leider!“ – in Bruns Stimme zitterte ein tiefes Mitgefühl. „In letzter Zeit soll er sogar zu den Proben betrunken gekommen sein.“

„Gute Nacht, Herr Brun!“

Ich wollte die Vorthür schließen, aber das bucklige Männchen trat abermals näher.

„Das Kind – wissen Sie – Cillchen, möchte doch gern seine Weihnachtsbescherung haben. Es versteht ja noch nichts von all dem Jammer. Das Bäumchen ist auch schon geputzt …“

Ich fiel ihm herb ins Wort. „Für solch unnöthige Dinge hat der Mann noch Geld? Da muß die Noth aber nicht groß sein.“ – Und ich schloß unsanft die Thür.

Ich glaubte, etwas von einer „sittlichen Entrüstung“ zu spüren, und fand es „abgeschmackt“ von Daniel Brun, mir die Weihnachtsstimmung mit seiner traurigen Geschichte zu verderben. Aber meine gute Laune hatte durch den Gerichtsschreiber nur vorübergehend gelitten. Sobald ich die Lampe angebrannt und mein Straßenkleid mit einem molligen Schlafrock vertauscht hatte, ergab ich mich mit Eifer den Vorbereitungen zu meinem Weihnachtsabend, und jede Erinnerung an den verwachsenen Schreiber wie an die Familie des Statisten war ausgelöscht.

Bei meinem Alleinleben hatte sich in mir ein gewisses Raffinement des Genießens ausgebildet; ich bereitete nicht nur jede Speise aufs vorzüglichste zu – mein Auge verlangte zugleich eine geschmackvolle Anordnung des Eßtisches; es war mir zur Gewohnheit geworden, ihn auch für mich allein stets mit Sorgfalt zu decken. Der Salat, den ich schon angerichtet hatte, der kalte Aufschnitt, die Butter, das Weißbrot – alles war erster Güte. Auch eine Büchse mit Gänseleberpastete stellte ich geöffnet hin; ich hatte sie wie auch die kleine Schale des feinsten Konfektes, die großen gelben Nüsse und den Nürnberger Lebkuchen soeben von meinen Freunden erhalten. Das Wasser in dem kleinen Theekessel von blankem Kupfer summte bald, und ich brauchte nur

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 839. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_839.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)