Seite:Die Gartenlaube (1891) 783.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Später zog der Liedersänger von Stadt zu Stadt, und wie oft hat er an der Gasthoftafel seine Lieder vorgesungen und dafür Beifall und gelegentliche Fackelzüge geerntet! Wie haben sich die Zeiten geändert! Ein Dichter, der jetzt an einer Gasthoftafel seine Lieder vorsingen oder vordeklamieren wollte, würde ganz gewiß in eine Nervenheilanstalt gebracht werden.

Ich selbst aber fand endlich Gnade beim Ministerium, ich wurde an der Breslauer Universität zugelassen, diente mein Jahr bei den Gardeschützen ab, wo ich nicht nur die Bekanntschaft der französisch sprechenden Schweizeroffiziere und vieler tapferer Neufchateler machte, sondern auch diejenige eines später vielgenannten Bühnenschriftstellers; denn der jüngste Lieutenant bei meiner Compagnie war – Gustav von Moser.




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Der höhere Standpunkt.

Von E. Werner.

Ja, Gnädige, es ist schon richtig so, die Sach’ mit dem Schleier. Wenn’s auch lange her ist, schon viele hundert Jahr, so geht’s noch heutzutag, man soll’s nur versuchen. Wenn ein Bub’ was Liebes hat, dann muß er ihm den Schleier stehlen – ein Fürtuch thut’s auch, wenn’s ein Madel aus den Bergen ist – dann vergißt’s ihn nimmer. Er liegt ihm im Sinn Tag und Nacht und es kommt nimmer los von ihm – aber gestohl’n muß es halt sein.“

Es war ein alter Bauer in Lodenjacke und Kniestrümpfen, der soeben eine der Bergsagen erzählt hatte, an denen die Alpen so reich sind, und nun mit feierlichem Ernste den alten Volksglauben vertrat, der sich daran knüpfte. Seine Zuhörer, eine junge Dame und ein halb erwachsener Knabe, lauschten mit voller Aufmerksamkeit der wundersamen Geschichte, während die beiden Herren, die etwas abseits auf der grünen Matte der Alm lagerten, sich ablehnender verhielten. Der Aeltere, ein Mann in vorgerückten Jahren, mit ergrautem Haar und freundlich wohlwollenden Zügen, lächelte nur, während sich in dem Gesichte des Jüngeren der herbste Spott ausprägte.

„Nun hören Sie nur diesen Unsinn, Herr Kollege!“ sagte er halblaut. „Und dabei spricht der Mensch im Tone felsenfester Ueberzeugung! Dieses Volk mit seinem Aberglauben hat doch noch entsetzlich weit bis zum Lichte der Vernunft!“

„Wozu sich denn so ereifern, lieber Normann,“ sagte der Aeltere ruhig. „Lassen Sie doch dem Volke das bißchen Poesie, das noch in seinen Sagen und Bräuchen wiederklingt, sonst ist sie ja nirgends mehr zu finden.“

„Ist auch gar nicht nöthig,“ brummte Normann. „Man kann auch ohne das fertig werden im Leben.“

„Je nachdem, mit zwanzig Jahren denkt man anders darüber. Ich habe auch meine poetischen Jugendsünden gehabt, ich habe sogar einige Male Verse verbrochen. Nun, entsetzen Sie sich nur nicht, besagte Verse waren ganz ehrbar an meine damalige Braut und spätere Ehegemahlin gerichtet. In solchem Falle greift auch einmal ein Mann der Wissenschaft in die Saiten der Leier – Sie haben das freilich wohl niemals gethan?“

„Ich? Aber Herr Professor Herwig!“

„Nehmen Sie es nur nicht übel,“ lachte Herwig. „Ihnen traut das ja auch niemand zu. – Nun Dora, hast Du endlich genug von der Wundergeschichte?“

Die letzte Frage galt der jungen Dame, die soeben herantrat. Es war ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren, eine frische, anmuthige Erscheinung, welcher der dunkelblaue Reiseanzug allerliebst stand. Der leichte Strohhut mit dem blauen Schleier, der auf den braunen Flechten saß, beschattete ein rosiges Gesicht mit klaren braunen Augen und zwei Grübchen in den Wangen, aus denen der Schelm lachte, und das ganze Wesen sprühte von jener glücklichen Heiterkeit und jenem Uebermuth, den nur die Jugend kennt.

„O Papa, ich plaudere so gern mit den Leuten,“ erwiderte sie, „und wenn der Sepp nun vollends auf die Bergsagen kommt, hat er in mir die dankbarste Zuhörerin. Aber ist es nicht schön hier auf der Alm? Sieh nur, wie reizend unser Schlehdorf dort unten liegt, wie der See blitzt im Sonnenschein! Und droben auf dem Gipfel muß es noch schöner sein, da sieht man über all die Bergeshäupter weg, weit in das Land hinaus. Ich war noch nie dort oben, heut aber steigen wir jedenfalls hinauf, nicht wahr, Friedel?“

Sie wandte sich zu dem Knaben, der gleichfalls städtisch gekleidet war, dessen dürftiger und schon vielfach abgetragener Anzug aber verrieth, daß er nur eine dienende Stellung in der Gesellschaft einnahm. Er mochte dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein und war hochaufgeschossen, aber mager und schwächlich. Das reiche, blonde Haar fiel um ein blasses Gesicht, das recht kümmerlich aussah mit seiner krankhaften Farbe und den dunklen Ringen um die Augen. Anziehend waren nur diese großen blauen Augen selbst, die freilich nicht in froher Reise- und Wanderlust strahlten wie die der jungen Dame. Sie hatten im Gegentheil einen recht müden, traurigen Ausdruck und doch leuchteten sie auf, als von der weiten Aussicht droben auf der Höhe die Rede war. Der Knabe war augenscheinlich eins jener armen verkümmerten Stadtkinder, die in engen Straßen und dunklen Höfen aufwachsen, ohne viel Luft und Licht, ohne den Sonnenschein des Lebens. Es mochte wohl das erste Mal sein, daß er hinaus kam in die freie große Bergeswelt.

Er warf einen halb fragenden, halb furchtsamen Blick auf den Professor Normann, der gleichmüthig sagte:

„Natürlich geht der Junge mit, wer soll denn sonst die Sachen tragen?“

„Ich bleibe jedenfalls hier,“ erklärte Herwig. „Der letzte Theil des Wegs scheint mir doch recht beschwerlich zu sein, und wie ich höre, ist es noch eine volle Stunde bis zum Gipfel. Sie nehmen meine Tochter wohl unter Ihren Schutz, lieber Normann, ich werde Sie hier erwarten.“

Die junge Dame schien nicht gerade sehr erbaut von dieser ihr zugewiesenen Begleitung, sie warf das Köpfchen zurück und bemerkte in spöttischem Tone:

„Der Herr Professor macht sich ja nichts aus den Bergaussichten.“

„Nein, mein Fräulein, ich bin nun einmal nicht angelegt für die Landschaft und ihre Bewunderung,“ lautete die ziemlich unverbindliche Erwiderung.

„Warum reisen Sie dann überhaupt?“

„Um naturwissenschaftliche Studien zu machen – zu keinem anderen Zwecke.“

„Sie brauchen das gar nicht so nachdrücklich zu betonen,“ lachte Dora. „Ich habe Sie durchaus nicht im Verdacht, daß Sie auf die Schleierjagd gehen wie der junge Jäger, von dem uns Sepp soeben erzählte; Sie haben es doch gehört?“

Der Professor nahm es offenbar übel, daß man sich unterstand, mit ihm zu scherzen; er richtete sich steif in die Höhe.

„Wenn Sie noch Vergnügen an Kindermärchen finden, Fräulein Dora – ich vermag dieses Vergnügen leider nicht zu theilen,“ versetzte er und schritt zu einem seitwärts gelegenen Felsblock, wo er eine Moosart von dem Gestein löste und aufmerksam betrachtete.

„Hu, wie ungnädig!“ spottete das junge Mädchen halblaut. „Papa, diesmal hast Du wirklich einen recht unliebenswürdigen Reisegefährten aufgefischt.“

„Liebenswürdig ist Normann allerdings nicht,“ gab Herwig zu. „Er giebt sich sogar redlich Mühe, das Gegentheil zu sein, sobald ein Dritter zugegen ist; man muß ihn unter vier Augen haben, um ihn in seinem wahren Wesen kennenzulernen. Wie ich Dir bereits gesagt habe, seine wissenschaftlichen Leistungen sind hochbedeutend und er ist auf dem Wege, eine Berühmtheit in seinem Fache zu werden.“

Doras Gesicht verrieth deutlich, daß ihr ein unbedeutender aber lustiger Reisegefährte weit lieber gewesen wäre als diese unliebenswürdige künftige Berühmtheit; sie verzog schmollend die Lippen.

„Daß er sich auch gerade in Schlehdorf ansiedeln mußte, wo wir wohnen! Und wenn er uns nur wenigstens auf den

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_783.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)