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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

was das Zeugniß Günthers in ein eigenthümliches Licht stellte. Dieser hatte inzwischen bei dem Müllermeister Hackeborn in Arbeit gestanden. Wegen schlechten Betragens wurde er entlassen und – zwei Tage darauf brannte die Mühle nieder. Auch die Verwendung des Magistrats zu Kroppenstedt und der Versuch, im Wege der Gnade eine Aenderung in Schraders Schicksal herbeizuführen, blieben ohne Erfolg. Alle Mittel schienen somit erschöpft.

Da – es war am 31. Oktober 1876, also sieben Jahre nach jener Verurtheilung – meldete sich Günther beim Fürstenwallposten zu Magdeburg und gab an, daß er die Könneckesche Mühle am 2. Mai 1869 selbst angesteckt habe, daß seine Erzählung von der Thäterschaft Schraders erlogen gewesen sei. Dieses Bekenntniß wiederholte er auch vor Gericht.

Danach sollte sich die Sache folgendermaßen zugetragen haben:

Ein Ziegeldecker zu Kroppenstedt verleitete Günther am Abend des 1. Mai 1869 dazu, seinem Dienstherrn einen halben Scheffel Roggenmehl zu entwenden und ihm für sechs Groschen zu überlassen. Die Furcht vor Entdeckung dieses Diebstahls brachte in Günther den Entschluß zur Reife, die Mühle in Brand zu stecken und damit die Spuren des Vergehens zu verwischen. Gegen ein Uhr nachts legt er das Feuer an. Als die Flammen rasch um sich greifen, fesselt er sich an Händen und Füßen in der Absicht, sich selbst mit zu verbrennen. Aus einer Ohnmacht wieder zu sich gekommen, hört er den Namen Schraders rufen, und um die Thäterschaft von sich abzulenken, bezeichnet er ihn als Brandstifter. Der Zufall will es dann, daß eine von ihm aufs Gerathewohl beschriebene Jacke sich wirklich in Schraders Besitz befindet.

Obwohl die angestellten Erhebungen das Selbstbekenntniß Günthers nicht in allen Punkten bestätigten, namentlich nicht in Betreff des Beweggrundes, so blieb doch kein Zweifel übrig, daß Schrader schuldlos verurtheilt worden war. Eine irrenärztliche Prüfung ließ auch die Zurechnungsfähigkeit Günthers als ganz zweifellos erscheinen. In Uebereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft wurde auf Freisprechung Schraders erkannt und nunmehr Günther wegen vorsätzlicher Brandstiftung und Meineids mit sechs Jahren Gefängniß bestraft.

Das Schicksal Schraders erweckte, wie erwähnt, eine weitgehende Theilnahme. Namentlich war es die „Magdeburger Zeitung“, welche in einigen warmen Artikeln für die Sache des unschuldig Verurtheilten eintrat. „Sein Besitzthum,“ schrieb sie, „ist verkauft; seine Familie zerstreut. Entblößt von allem, ist er des Mitleids wohlthätiger Menschen werth.“ Dieser Ruf an die Menschenliebe verhallte nicht ungehört. Sie trat ein in die von der Gesetzgebung offen gelassene Lücke und brachte in kurzer Zeit die Summe von dreißigtausend Mark auf als Sühnegeld für das dem armen Müllergesellen zugefügte Unrecht.

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Die von uns gesammelten Beispiele haben gezeigt, wie viele Ursachen zusammen wirken können, um einen falschen Urtheilsspruch zustande zu bringen. Einsichtsvolle Geschworene, gewissenhafte Richter, die feierlichsten Einrichtungen, welche menschliche Bildung und menschliche Sitte geschaffen haben, um das heilige Recht aufrecht zu erhalten, werden hier zu willenlosen Spielbällen eines äffenden Zufalls, heimtückischer Bosheit, kindischer Schwachheit, wissenschaftlicher Fehlgriffe. Nicht Absicht oder böser Wille auf seiten derer, welche berufen sind, das Recht zu finden, liegen hier vor, nur der Irrthum ist es, der obwaltet, dessen letzter Grund aber wieder in der Unvollkommenheit aller menschlichen Weisheit und Erkenntniß liegt.

„Was ist Wahrheit?“ Diese Frage des römischen Landpflegers wird immer eine offene sein und bleiben, solange nicht der Himmel zur Erde steigt. Nur geistige Beschränktheit und eitle Selbstgefälligkeit wird meinen, ihr Ausspruch sei unfehlbar. Und es liegt ein tiefer Sinn drin, wenn der mohammedanische Richter, indem er vor der Weisheit eines Höhern sich beugt, seine Urtheile stets mit dem Ausruf schließt: „Allah weiß es besser.“

Unter den Urtheilen, welche jährlich zu Tausenden in die Welt hinausgehen, bilden indeß diejenigen, welche einen Unschuldigen irrthümlich der Strafe zeihen, nur einen sehr geringen Prozentsatz, und es steht andererseits fest, daß mehr Schuldige freigesprochen als Unschuldige verurtheilt werden. Wo aber dennoch das letztere geschah und wo dann eine glückliche Wendung die Wahrheit an den Tag förderte, die Unschuld des Verurtheilten zu unbestreitbarer Gewißheit erhob, da, meinen wir, sollte es der Staat als seine heilige Pflicht betrachten, das einem seiner Bürger widerfahrene Unrecht zu sühnen, soweit es überhaupt geschehen kann, ihm Ersatz zu leisten wenigstens für den Ausfall an materiellen Gütern. Es bleiben ja doch, wie sich uns wiederholt enthüllt hat, Schädigungen moralischer Art genug übrig, die auszugleichen in keines Menschen Macht steht. Nur dann, wenn der Staat nicht bloß den Schuldigen straft, sondern auch den unschuldig Gestraften nach einem alten Rechtsausdruck „wieder einsetzt in den vorigen Stand“, nur dann ist er, was er sein soll, ein – nach menschlichem Maße gemessen – vollkommener Hüter des Rechts. Fr. Helbig.     


Blätter und Blüthen.

Alice Barbi. (Zu dem Bildnisse S. 533, nach einer Photographie aus dem Atelier Krziwanek in Wien.) Fast wie das Mädchen aus der Fremde ist sie vor zwei Jahren in Wien erschienen. Niemand wußte, woher sie kam, und jedem brachte sie eine Gabe, dem Verehrer altitalienischer Musik wie dem Bewunderer von Beethoven und dem Liebhaber des deutschen Liedes. Das Halbdunkel, welches auf den Anfängen von Alice Barbi, der heute allenthalben hochgefeierten italienischen Sängerin, liegt, ist noch immer nicht ganz zerstreut, und alles, was man uns erfahren läßt, ist in wenigen Worten zusammen zu fassen: Alice Barbi ist um die Mitte der fünfziger Jahre geboren, und zwar zu Florenz oder wenigstens in der Nähe der Arnostadt. Ihre arme Familie konnte nichts für die Ausbildung ihres Gesangtalentes thun, aber das Glück ließ sie eine reiche Persönlichkeit des toskanischen Adels finden, welche großmüthig die Kosten hiefür trug. Und nun ist die Künstlerin imstande, durch ihren Ruhm die ihr erwiesene Unterstützung zu belohnen und zugleich als gute Tochter und Schwester den Ihrigen zu helfen.

Wird somit die Neugier, welche das Vorleben Alice Barbis erforschen möchte, nur halb befriedigt, so hat die Sängerin selbst gleich beim ersten Eintritt in die deutsche Musikwelt alle Titel aufgewiesen, die ihr eine glänzende Aufnahme sichern mußten. Wir erinnern uns noch lebhaft ihres ersten Auftretens in Wien – es war Ende Januar 1889 – bei einem Liederabend im Bösendorfer-Saale. Durch ihre prächtige Erscheinung und besonders durch ein fein geschnittenes Profil das Auge gewinnend, erschien sie dem Hörer alsbald als das wahre, edle Vorbild des „Schöngesangs“, des Bel canto, durch Tadellosigkeit in Ton und Aussprache, durch Biegsamkeit und Weichheit der Stimme, durch Verzicht auf jede Effekthascherei, durch Gleichmäßigkeit und Reinheit des Trillers. Mit wachsendem Staunen hörten wir erst den Vortrag von Kompositionen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, dann Beethovens Arie „Ah perfido“, und als sie vollends mit bestrickender Anmuth ein Schubertsches Lied um das andere sang, da wollte der Beifall der sonst etwas verwöhnten Wiener kein Ende mehr nehmen.

Schon bei ihrem zweiten Konzerte konnte der große Musikvereinssaal die Menge derjenigen nicht mehr fassen, die herbeiströmten, um die mit einem Schlag berühmt gewordene italienische Sängerin zu bewundern. Und siehe da, selbst in diesem großen Raume reichte ihre Stimme, die dieser und jener anfänglich etwas schwach hatte finden wollen, so vollständig aus, daß auch noch ihr Pianissimo bis in die entferntesten Winkel drang. Charakteristisch im Tone bei jeder Arie und jedem Liede, ergreifend, übermüthig, sinnig oder leidenschaftlich, wie es das Wesen der wechselnden Kompositionen erforderte – überschritt sie, eine echte und wahre Künstlerin, niemals die Linie der unbedingten Schönheit. Seither hat sie einen förmlichen Siegeszug durch Deutschland gehalten, und es ist wohl nicht zu kühn, wenn man ihr eine nicht minder glänzende Ruhmeslaufbahn voraussagt wie einer Adeline Patti oder Jenny Lind. l.     

Das Jubiläum eines Adlerjägers. (Zu dem Bilde S. 548.) „Und die Adlerfeder auf Deinem Hute hast Du Dir wohl höchst eigenhändig erbeutet?“ so fragte mich in etwas ironischem Tone der Freund, der mich bei meiner Rückkehr von einem kleinen Pfingstausflug ins bayerische Algäu am Bahnhof abgeholt hatte und nun behaglich mit mir hinter einer Flasche Landwein saß.

„Das nun gerade nicht, mein Lieber, aber ein Andenken ist sie mir doch, beinahe so werth, als wenn ich sie selbst mit einem glücklichen Schuß aus den Lüften heruntergeholt hätte. Sie stammt von Leo Dorn.“

„Von Leo Dorn? Verzeih’, wer ist das? Ich habe leider nicht das Vergnügen!“

„Nun, hast Du vielleicht einmal das Bild von Fritz August Kaulbach gesehen, den prächtigen Kopf des Jägers mit dem kühn gezeichneten Profil, den blitzenden durchbohrenden Augen –“

„Und mit dem staatsmäßigen Vollbart – o ja, gewiß, ein Charakterkopf erster Güte –“

„Nun, das ist Leo Dorn von Hindelang im bayerischen Algäu. Also Du kennst ihn, von ihm hab’ ich die Adlerfeder. Und zwar ist es durchaus keine gemeine Steinadlerfeder, wie sie jeder bekommen kann, der mit einem freundlichen Gesicht und einem freundlichen Wort Dorns Haus betritt – die Feder gehörte einst einem Adler, der das ausgesuchte Glück

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 547. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_547.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2023)