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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

suchen: im Hängenetz, auf dem Boden, auch unter den Sitzen, nur nicht an der richtigen Stelle. ‚Es brennt!‘ will ich ihm beinah zurufen, wie er den gesuchten Handschuh fast mit dem Finger streift, – aber da hat er ihn schon selbst gefunden, schleunigst zusammengedrückt und in die Rocktasche versenkt. Er grübelt nach, wie der Handschuh wohl aus der Tasche gefallen und unter den Sitz gerathen sein kann; allein bald schaut er sich der richtigen Veranlassung zu erinnern; sein Gesicht glättet sich wieder.

Und nun, Halunke, thu, was dir beliebt! Mit dir bin ich einstweilen fertig; ich habe genug von dir. Ich störe dich nicht mehr. Packe ein oder packe aus, mir ist alles eins; du entgehst mir nicht mehr. Jetzt will ich doch sehen, ob ich denn nicht allen Ernstes schlafen kann. Mir wird erst jetzt meine furchtbare Müdigkeit fühlbar. Mein Körper schmerzt mich, als hätte man mir jeden Knochen einzeln ein paarmal zerbrochen; mein Kopf kann nicht einen einzigen klaren Gedanken mehr erzeugen, geschweige festhalten. Müde, müde, müde – weiter denke und fühle ich nichts – und dann überhaupt nichts mehr.

Stunden mußten vergangen sein. Wie viele? – ich weiß von nichts. Ich war trotz mehrmaligen Haltens, das ich nur im Traum gespürt hatte, nicht einmal voll erwacht. Da wird die Thür wieder aufgerissen, die Heizung erneuert, – ein Mann, ein Beamter springt herein. Ich rühre mich nicht, auch mein Reisegefährte scheint zu schlummern. Der Beamte hat uns beide kurz aber scharf angeblickt, besonders unsere Hände, dann hat er leise die Thür zugedrückt. Durch das Fenster zu meinen Füßen lese ich den Namen der Station: Verviers.

Der Zug fährt weiter. Nur noch wenige Minuten und wir sind auf deutscher Erde. Der Gedanke ermuntert mich, ich springe auf. Auch der andere liegt mit weit offenen Augen da. Diesmal fange ich an, mit ihm zu sprechen:

‚Sie haben gut geschlafen, mein Herr?‘

‚Ausgezeichnet! Bei Ihnen braucht man nicht erst zu fragen.‘

‚Ja, ich schlafe nie besser als im Eisenbahnwagen.‘

‚Das ist ein kostbares Geschenk der Natur für einen Reisenden.‘

‚Doppelt kostbar für einen Mann der Feder. Morgen, oder ich muß wohl schon sagen heute, muß ich wieder am Schreibtisch sitzen.‘

‚Sie werden über die Ausstellung schreiben?‘

‚Damit bin ich einstweilen fertig. Ich werde zunächst über den Raubmord im Comptoir d’Escompte schreiben.‘

‚Ach, wie schade, daß ich kein Deutsch verstehe, um das lesen zu können.‘

Der Zug fährt über mehrere Viadukte und durch lange Tunnel mit verminderter Geschwindigkeit. Mein Gegenüber sieht ganz ruhig, fast spießbürgerlich aus. Wer will ihm noch etwas anhaben? –

‚Herbesthal! Alles aussteigen, – Zollrevision!‘ – Der Mörder hat das Deutsche nicht verstanden, ich übersetze es ihm. Wieder hinaus mit dem Handgepäck, wieder scharf gemustert von spähenden Polizeiaugen, – dann zurück ins Coupé. Ein deutschredender Schaffner, sauber, stramm, eine Freude für den, der aus Frankreich kommt, hat unsere Billete geknipst. Vorwärts! Der letzte Akt in diesem Drama beginnt, für den Mörder nach seiner Meinung der entscheidende: jetzt gilt’s, das geraubte Gut unbemerkt vor Köln wieder in den Koffer zu praktiziren. Gute zwei Stunden bleiben ihm dazu, und – ‚ich schlafe nie besser als im Eisenbahnwagen‘.

An Uebung im Schlafen jeder Sorte, im künstlichen zumal, fehlt es mir ja nicht. Der Vierfingrige soll es gut haben. Ein bißchen zappeln soll er zuvor, aber das kann weder ihm noch mir etwas schaden. Ich beginne ein gleichgültiges Gespräch, doch er hat keine Lust, darauf einzugehen. Er sähe mich am liebsten wieder in meiner dunkeln Ecke liegen und schlafen. Indessen ich lasse ihn bis nach Aachen darauf warten. Auch in Aachen wieder polizeiliche Untersuchung, sehr höflich, aber sehr eingehend. Rathlos sitzt der Halunke da; die Unkenntniß dessen, was der Beamte zu uns spricht, genirt ihn gewaltig. – Und nun, du Satansbraten, pack’ ein, pack’ alles ein und vergiß mir ja nichts, auf daß wir in Köln alles schön beisammen finden!

Ich habe mich so gelegt, daß ich ihm den Rücken zudrehe. Ich habe es satt, mich von dem Scheusal beglotzen zu lassen. Zu sehen brauche ich jetzt ja nichts mehr. Ich höre den Kerl in seinem Kursbuch blättern. Von hier aus kenne ich die Linie Station für Station. Bis nach Stolberg hat er so an zehn Minuten. Ob er es bis dahin wagen wird? – Aha, er weiß jetzt nicht sicher, ob ich schon eingeschlafen bin, und wartet lieber noch. Seinen Koffer hatte er auf den Sitz gelegt, gleich beim Einsteigen in Herbesthal.

Stolberg vorüber, – jetzt gehts auf Düren zu. Die rothe Lohe aus den Riesenschloten der Hochöfen hier herum wirft flackernde Lichter durch die Wagenfenster. – Ist das schon Düren? Das wäre zu schnell gegangen. Nein, Eschweiler. Eine Minute Aufenthalt. Ich schlafe so laut, wie ich unauffälligerweise kann. Der Zug rasselt weiter, – und jetzt muß er meiner ganz sicher geworden sein: wieder höre ich das wohlbekannte Knacken des Schlüsselchens, wieder Ruck um Ruck, wie er die Polster herauszieht. Sein langer Ueberrock streift meinen Ellbogen, ich fühle etwas Hartes durch alles Zeug hindurch: aha, den Kolben seines Revolvers! aber ich rühre mich nicht. Dann höre ich ihn Packet auf Packet hervorheben und in den Koffer legen; ich zähle –: o, er vergißt keines! – Knacks! schließt sich der Koffer wieder.

‚Düren! fünf Minuten!‘ Vom Osten her dämmert ein fahles Licht durchs Fenster; der Morgen graut. Noch eine Stunde bis nach Köln.

Mit jeder Minute wuchs jetzt meine Ungeduld. Ob meine Depesche richtig in Deine Hände gelangt war? Wie, wenn Du nicht zu Hause warst, als sie mitten in der Nacht ankam? Wenn Du dienstlich irgendwo um Köln zu thun hattest? – Nun, den Rest weißt Du, Richard, und kannst jetzt wohl Deinen Bericht allein fertig kriegen.“

„Aber ich nicht,“ sagte Evchen, „ich weiß ja noch gar nichts, weiß nur, daß Richard mitten in der Nacht herausgeklingelt wurde, mir sagte: ‚Dienst, – schlafe Du nur ruhig weiter,‘ sich anzog und fortging. Das ist alles.“

„Nun,“ fuhr Hans fort „Sie hätten ihn sehen sollen, meinen Vierfingrigen, wie vergnügt er ausstieg, als der Zug hier auf dem Bahnhof hielt, und wie er, nach einem schnellen Blick den Perron entlang, auf mich wartete, um mir Adieu zu sagen. Ich hatte Richard, hinter dem Rücken des aussteigenden Mörders, ein abwinkendes Zeichen gegeben, noch ein wenig zu warten. Richard stand mit zwei Riesenkerlen an dem Ausgang nach dem Droschkenplatz. Also alles in Ordnung.

Der Vierfingrige hatte einen sich ihm anbietenden Gepäckträger rauh abgewiesen und trug seinen jedenfalls nicht ganz leichten Koffer selbst mit beiden Händen. Nahe dem Ausgang, bis wohin ich neben ihm hergegangen war, setzte er ihn nieder, um einem Droschkenkutscher zu winken. In diesem Augenblick streckte ich ihm die Hand entgegen und sagte zu ihm, so daß Richard dicht neben uns jedes Wort hören konnte, auf französisch: ‚Glückliche Reise, mein Herr!‘ und dann zu Richard und seinen beiden Schutzleuten auf kerndeutsch: ‚Packt den Mordshalunken!‘ – Wie mit eisernen Klammern legten sich je zwei Hände um jedes Handgelenk des Burschen. Nie habe ich ein solches Bild des rathlosesten Entsetzens gesehen. Aber das währte nur wenige Sekunden, dann riß der große starke Mensch wie mit Riesenkräften an den ihn umspannenden Händen, daß die beiden wackeren Kerle alle Mühe hatten, ihn nicht loszulassen. Richard trat dicht vor ihn hin und sagte ihm ruhig ins Gesicht auf deutsch: ‚Sie sind verhaftet!‘ Sich sträubend und vor hilfloser Wuth schäumend, schrie er Richard an: ‚Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich los!‘

Ich trat neben Richard und griff, ohne ein Wort zu sagen, in des Mörders Rocktasche, holte, während er verdutzt stillstand, seinen Revolver und seine Handschuhe heraus und sagte ihm auf französisch: ‚Gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen Bruder vorstelle, den Herrn Polizeihauptmann, an den ich Dank Ihrer Liebenswürdigkeit von Erquelinnes die Depesche gesandt habe. Ich hoffe, daß Sie von den vier Millionen Franken keine einzige im Wagen haben liegen lassen. Und wenn Sie in Zukunft zu einem Raubmord sich wieder einmal eines vierfingrigen Handschuhs bedienen, so lassen Sie ihn nicht im Coupé auf den Boden fallen.‘ – Dabei hielt ich ihm den schwarzen Handschuh mit seinen ausgespreizten vier Fingern vor die Augen. –

Er warf mir einen Blick zu so erfüllt von wüthender, ohnmächtiger Mordlust, daß mich dieselbe Empfindung überkam wie in der Nacht, als ich seine Finger um meinen Hals zu spüren vermeinte. Dann knickte er zusammen: er wußte, hier half nicht Wuth noch List. Widerstandslos ließ er sich in das Polizeiwachtzimmer des Bahnhofs führen, wo sie ihm die Hände banden. –

Jetzt geh und mach’ einen recht schönen Bericht für Euren Präsidenten. – Auf Ihr Wohl, liebe Schwägerin!“ –




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