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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

her in rasender Eile eine andere Droschke angefahren. Mein Kutscher will ausweichen, der andere will anhalten; – beides gelingt nur halb, und wir rasseln zusammen, wenn auch mit abgeschwächtem Stoß. Bis auf die kleine Beule in meinem Hut kein Unfall, Pferde und Wagen unbeschädigt. Trotzdem lehnt sich der Insasse der tollgewordenen andern Droschke aus dem Schlagfenster und schreit verängstigt seinem Kutscher zu: ‚Tausend Donner, was ist geschehen? – Vorwärts, Kutscher, sonst ist’s mit dem guten Trinkgeld nichts. Wir versäumen den Zug!‘

Offenbar auch nach dem Nordbahnhof, dachte ich. Welchen Zug konnte er meinen? Der Expreßzug nach Deutschland ging ja erst um sechs Uhr zwanzig Minuten, und es war jetzt knapp dreiviertel auf sechs. – Ach, lächerlich, als ob vom Nordbahnhof um diese Zeit nicht noch andere Züge abgehen könnten!

Aber verdammt eilig hatte es der Mensch. Das las man ihm vom Gesicht: angstverzerrt, die Augen weit aufgerissen, die Nasenflügel gebläht. Ich hatte es nur wenige Sekunden gesehen, aber es hatte sich mir mit merkwürdiger Schärfe eingegraben. Unter Tausenden hätte ich es schnell herausgefunden. Mich hatte er nicht gesehen.

Viel zu früh auf dem Bahnhof, wie immer; aber das Eisenbahnfieber werde ich nicht los.

Da saß ich nun in dem über alle Maßen öden Stall, den man in Paris Wartesaal nennt. An der Eingangsthür ein schmieriger Kontrollbeamter; die Ausgangsthüren zum Perron verschlossen fast bis zur Abfahrtsminute. Zu meinem Leidwesen hatte ich bei der Ankunft die Entdeckung gemacht, daß dieser Expreßzug nur die erste Klasse führte. Fünfzehn Franken theurer als der zweieinhalb Stunden später fahrende Postzug. Wer aber einmal auf einem Bahnhof ist, mag nicht mehr warten.

‚Le Soir!‘ – ‚Le Télégraphe!‘ – ‚La France!‘ schrie der Zeitungsverkäufer. Ich kaufte mir alle Abendblätter, die er hatte, als Reiselektüre für die schlaflose Nacht. Auch war ich neugierig, wie die Presse den Diebstahl beurtheilen mochte.

Ich saß auf der niedrigen Pritsche unmittelbar neben der Glasthür zum Perron. Meine Handtasche lag links neben mir; mit dem rechten Ellbogen stützte ich mich auf meine zusammengerollte Reisedecke und begann im ‚Soir‘ zu lesen. Gleich auf der ersten Seite ein Leitartikel über den ‚Mord, Einbruch und Raub im Comptoir d’Escompte‘. Nichts Neues für mich darin, nur einiges Falsche und die bekannte Formel am Schluß: ‚Die Polizei ist dem Verbrecher auf den Fersen; wir hoffen, unseren Lesern morgen die ganze Wahrheit mittheilen zu können.‘ Keinerlei gehässige Andeutung gegen die Leitung oder die Beamten des Comptoirs. Nur noch die Notiz: ‚Das Institut verringert sein Personal bis auf das Unentbehrlichste.‘

Auf der zweiten und dritten Seite der alte Tratsch: Patriotenliga, Boulanger, König Milan und Frau Artemista, und ähnlicher Kohl. Zur Abwechselung statt des abgestandenen Déroulède der famose Roßarzt Antoine. Ich schlug um, die vierte Seite. Halt, eine Riesenanzeige, fast über die ganze Seite weg:

‚Raubmord und Diebstahl von 4 320 000 Franken!

In der Nacht vom 21. zum 22. März sind aus dem Tresor des Comptoir d’Escompte in der Zeit von siebeneinhalb Uhr abends bis sieben Uhr morgens mittels Einbruchs 4 320 180 Franken in Banknoten von 1000, 500 und 100 Franken sowie 2080 Franken in Napoleons gestohlen worden. Die Banknoten befanden sich in elf mit den Siegeln des Comptoirs verschlossenen Packeten aus gelbbraunem Packpapier. Der Dieb hat den Wachthund mit einem Strychninpräparat vergiftet und den Nachtwächter erschossen mit einer kleinkalibrigen Revolverkugel. Spuren eines Kampfes zwischen dem Verbrecher und dem Wächter sind nicht vorhanden. Der Einbruch ist erfolgt nach Sprengung der Thür zum Tresor und zum stählernen Geldschrank mittels zweier Melinitkapseln. – Dringend verdächtig des Mordes und Einbruchs ist ein Mann in den Vierzigern, mit glattrasirtem Gesicht, über Mittelgröße, breitschultrig, offenbar Franzose, er spricht wenigstens mit fehlerlosem Accent. Er ist mit Leichtigkeit daran zu erkennen, daß ihm an der linken Hand der kleine Finger fehlt. – Wer den verwegenen Verbrecher ergreift oder zu dessen Ergreifung beiträgt, erhält fünf Prozent derjenigen geraubten Summe sofort bar ausbezahlt, welche sich bei dem ergriffenen Verbrecher vorfindet, mindestens aber 50 000 Franken Belohnung.‘“


Der Festwagen „Leipzig“. Entworfen und geba[ut von Male]r J. R. Wehle und Architekt Paul Schuster.

Der Festwagen der vereinigten Buchgewerbe Sa[chsens.] Entworfen und gebaut von Prof. Naumann.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 460. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_460.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)