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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

leistete, daß sie darum gewußt, wenn auch nicht so ganz genau. Vor sich selbst wäre sie ja jesuitisch gewesen, hätte sie nichts sehen, nichts ahnen wollen.

Aber als Tag um Tag Saschas eben wieder erblühte Heiterkeit schnell entschwand, da begannen Sorge und Schwäche einen erfolgreichen Kampf gegen ihren Stolz zu führen. Wenn dieser rührende Einfall des Knaben ein Fingerzeig wäre, der auf den rechten Weg wiese? Wenn er nur eines, eines guten Wortes harrte, um zurückzukehren, einsichtsvoll und geläutert? Wenn diese bittere Zeit in seinem Blute den schnellwallenden Trotz geebnet hätte? Wenn vielleicht jetzt nach dieser äußersten Auflehnung gegeneinander sie verständen, sich ineinander zu fügen?

Und an einem Septembertag, der sich aus den im Thal brauenden Nebeln leuchtend erhob, sagte Gerda dem entzückt aufblickenden Knaben, daß sie einige Besorgungen in Baden habe, er könne mitfahren und mit der Jungfer spazieren, indeß sie in den Magazinen sei. Der Verwalter, welcher ohnedies unten zu thun hatte, führte sie in seinem klapprigen Wägelchen zu Thal. Auf der Promenade an der Oos verließen sie das Gefährt.

Gerda wandelte ein Weile mit dem Kinde und dem Mädchen zwecklos unter den Bäumen. Ihre Füße waren bleischwer, ihr Antlitz ganz entfärbt. Ihr war es, als stände sie vor einer letzten fürchterlichen Entscheidung.

„Mama, Du wolltest ja für Tantchen was einkaufen,“ drängte Sascha ungeduldig. Sie seufzte schwer.

„Also – ja! Sie lassen Sascha nicht von der Hand. Hier haben Sie Geld, wenn er Durst oder Hunger bekommen sollte, gehen Sie mit ihm zu Rumpelmayer; Sie wissen die Konditorei? Ja? Schön! In anderthalb Stunden treffen wir uns oben auf dem Marktplatz vor der katholischen Kirche.“

„Sehr wohl, Frau Baronin.“

Gerda sah sich noch fortwährend nach dem Knaben um. Sie bemerkte, daß seine Begleiterin eine Frau anredete. Sascha ließ sich nach der Wohnung Alfreds erkundigen, die er vom Verwalter erfragt. Dann gingen sie über eine der Brücken in das Innere der Stadt und entschwanden ihrem Blick.

Sie ging nun plötzlich, von fieberhafter Eile ergriffen, die einzige Besorgung zu machen, die den Vorwand zu dieser Fahrt gegeben hatte. Der Zettel brauchte nur in dem Delikatessengeschäft abgegeben zu werden, Tantchen hatte ihn geschrieben; die Waren mit der Rechnung schickte man hinauf. Nach einer Viertelstunde schon war Gerda oben an der Kirche.

Sie hatte diesen Platz zum Wiedertreffen gewählt, weil es ihr widerstrebte, an irgend einen Ort zu gehen, wo sie Menschen, Bekannte treffen konnte, wie vor vierzehn Tagen die Ravenswann und Schneider im Buchladen. Daß jene sie damals ungezogenerweise und absichtlich nicht gegrüßt, war ihr gar nicht aufgefallen, aber der bloße Anblick von Leuten aus der Welt war ihr lästig. So dachte sie, in der Kirche zu warten.

In dem hohen, kühlen Raum, in den das Licht farbig verschattet durch bunte Fenster fiel, war es ganz still. Hier und da knieete in den Bänken eine Beterin, oder ein Neugieriger ging auf leisen Sohlen durch den Mittelgang. Die bunten Sonnenflecke, die roth und grün und blau auf den Säulenbündeln, dem steinernen Estrich, dem braunen Gestühl lagen, belebten freundlich das ernste Bild der graugetönten Kirchenhalle.

Wie wohl dieser Friede dem bangschlagenden Frauenherzen that!

Leises Orgelspiel begann, und zugleich kamen zu allen Thüren Leute herein. Die Kirche füllte sich rasch, eine Messe oder eine Predigt schien gehalten werden zu sollen. Es war Gerda wie eine Mühe, aufzustehen und den Platz zu verlassen, der ihr nun keine Stille mehr bot.

Draußen lag greller heißer Sonnenschein. Mit Sorge dachte Gerda daran, daß sie das Kind hierherbestellt hatte, und daß es in der Mittagsgluth die steilen Straßen hinanklimmen mußte. Ihr selbst war es unmöglich, selbst unter dem Schutze ihres großen Sonnenschirmes, auf dem Platze auszuharren.

Sie trat in den Thorbogen des Rathhauses und ging in dem um diese Zeit völlig verlassenen Flur auf und ab. Aus dem kahlen Raum führten rechts und links Thüren mit je zwei Vorstufen in das Innere des Gebäudes. Dazwischen hingen an den schmucklosen Wänden in drahtvergitterten Rahmen amtliche Ankündigungen.

Wie die Minuten bleiern schlichen! Gerda sah nach der Uhr – noch eine Viertelstunde bis zur bestimmten Zeit. Aber vielleicht hatte Sascha schnell gefunden, was er gesucht, für weitere Gänge dann keine Lust gehabt und kam schon. Sie trat unter das Portal und sah rechts die abwärtsführende Straße entlang. Niemand! Sie ging wieder im Flur auf und ab. Ihr Herz schlug immer wilder. Wenn Sascha ihn selbst getroffen – wenn er mitkäme – gleich jetzt – hierher – aber nein, Sascha hatte gewiß nur seinen Brief abgeben wollen und hatte ihn selbst gar nicht gesehen. Ein Zufall jedoch konnte die Begegnung dennoch herbeigeführt haben. Zum Beispiel, wenn er gerade ausging im Augenblick, wo das Kind eintrat. Oder auf der Straße. Oder er konnte, nachdem er den Brief erhalten, dem Kinde eilig nachgestürzt sein. –

Dies Erwägen von all den Möglichkeiten war aufreibend.

Und nun noch zehn Minuten.

Gerda zählte die Tiefe des Flurs in Schritten aus. Dann sah sie zum Plafond empor und zählte das sich wiederholende Muster der weißgetünchten Stuccatur. Dann trat sie an die vergitterten Rahmen heran. Sie las. Eine hohe obrigkeitliche Verordnung in Wegebauangelegenheiten. Sie las, jedes Wort mit den Lippen genau aussprechend.

Und immer das Kind noch nicht zu sehen! Sie ging an das Portal und kehrte zum zweiten Aushängekasten zurück. Es waren die standesamtlichen Aufgebote.

„Michael Aloys Friedrich Gimbel, Sohn des Friedrich August Gimbel und dessen Ehefrau Sophie Marie geborene Hänischer, Blechnergehilfe dahier, mit Luise Katharina Lechleitner, Tochter des Ludwig Leopold Lechleitner und der Luise Katharine geborene Krieth, Dienstmagd zu Badscheuren.“

„Charles Alfred von Haumond, Sohn des verstorbenen Alfred Germain von Haumond –“

Da äffte ihr umflortes Auge sie. Das war ja Unsinn! Noch einmal! Sie legte mit ausgestrecktem Arm die flache Hand gegen die Wand; die Kniee bebten ihr so; es war ihr, als sollte sie fallen. Das war ja Unsinn. Das stand natürlich nicht da. Also noch einmal!

Und die geschriebenen schwarzen Lettern hinter dem Drahtgitter schossen farbig zu riesengroßer Höhe empor. Es war, als seien sie aus Meereswogen geschrieben, so, in sich wälzender Schlangenlinie, wankten sie auf und ab.

„Charles Alfred von Haumond …“ das Weib tastete mit der Linken an dem Drahtgitter, als wollte sie buchstabierend den Finger auf das Papier bringen, wo die Namen tanzten.

„Josephe Germaine Thomas.“

Die Befestigung des vergitterten Kastens war dem Eisendruck so klammernder Hände nicht gewachsen. Er löste sich von dem Nagel, an welchem er hing, und stürzte polternd herab.

Wie Donnerton klang das in Gerdas Ohr, so laut, so unerträglich, so besinnungraubend. Mit irren Blicken sah sie um sich, sah auf das herabgestürzte Ding zu ihren Füßen, fühlte einen Schwindel und lehnte sich an die Wand, die Stirn fest gegen das kalte Mauerwerk gepreßt. –

Mit wichtig freudiger Miene ging Sascha neben seiner stillen und gutmüthigen Begleiterin her.

„Frage nach dem Weg zum Leopoldsplatz!“ bat er an jeder Straßenecke von neuem.

Nun waren sie dort. Sascha zog das schon recht kraus gewordene Couvert hervor, auf welchem unter der Adresse. „An Papa Alfred“ noch stand „N. 3.“

Er verglich an allen Häusern die Nummer mit der 3 auf seinem Brief. Endlich hatte er das Haus gefunden.

Die Jungfer, welche natürlich beim Anblick der Briefadresse errathen hatte, was er wollte, fragte nach Herrn von Haumond.

„Eine Treppe hoch.“

Richtig, da stand auch der Name, eine Visitenkarte diente als Schild.

Sascha klingelte. Einmal, zweimal, noch einmal, niemand kam.

Aus einer andern Thür des Korridores guckte endlich ein Frauenkopf durch den schmal sich öffnenden Spalt.

„Da ist niemand daheim. Kann ich’s bestellen?“

„Nein! Wir kommen wieder,“ sagte der Knabe.

Er war sehr traurig.

„Wir wollen auf und ab gehen, hier auf dem Platz.“

„Aber die Sonne scheint zu stark, es könnte Dir schaden, mein Herzchen,“ sprach die Jungfer.

„Nein, ich will es!“ rief er weinerlich.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 359. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_359.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)