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verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Schmugglerbilder von der preußisch-russischen Grenze.
Mit Originalzeichnungen von Robert Aßmus.

Schmuggler-Vorposten.

Es war ein kalter Oktoberabend und die bleichen Herbstnebel hielten ihren ernsten Einzug auf der trostlosen weiten Ebene Kurlands. Der Zug leerte sich in Moscheiki, einer kleinen Eisenbahnstation, deren Restauration aber durch die schweren silbernen Tafelaufsätze mit dem dampfenden silbernen Samowar (Theemaschine), die Schar befrackter Kellner mit weißen Handschuhen und Kravatten einen vortheilhaften Eindruck machte. Mich fror und so nahm ich an der langen Tafel zwischen den russischen Offizieren Platz, um mich mit einem Glase heißen Thee, der sehr dunkel getrunken wird, aber vortrefflich mundet, zu erwärmen.

Ich hatte, wie man mir mehrfach sagte, bis zum Abgange des Zuges nach Libau noch eine volle Stunde Zeit. Da der Reisende aber auf den Seitenbahnen Rußlands noch vorsichtiger als im Süden der Vereinigten Staaten Amerikas sein muß, nahm ich im Zuge Platz und fuhr, trotzdem der Zug erst in einer Stunde gehen sollte, gleich darauf zu meinem nicht geringen Erstaunen in die dunkle Nacht hinaus. Ich mußte unwillkürlich an den geistvollen Turgenjeff denken, der seine Landsleute unbarmherzig, aber sehr wahr schildert und ihnen die Eigenschaft des fortwährenden Lügens beilegt. Dagegen habe ich unter den Adligen der Deutsch-Russen in Kurland, Livland und Esthland, deren Söhne meistens auf den deutschen Universitäten studiren, die prächtigsten Menschen gefunden, voll Ehrlichkeit und Wahrheit und von der liebenswürdigsten Gastfreundschaft.

In Libau zeichnete ich Ansichten der Stadt und skizzirte oben auf der luftigen engen Plattform des Leuchtthurms das Bild Libaus[1], wofür mich der russische Wächter einstecken wollte und erst auf Vorzeigen meiner Empfehlung an einen der höchsten Beamten mich freiließ.

Am zweiten Morgen miethete ich einen Wagen, der mich nach Polangen, dem russisch-preußischen Grenzorte, zurückbringen sollte. Der Kutscher, ein Lette mit verschmitztem Gesichte, küßte mir beim Miethen des Fuhrwerks nach dortiger Sitte die Hand und nannte mich Baron. Die Kalesche war ein altersschwaches mit Fenstern versehenes Vehikel. Vor diesem wurde das Viergespann befestigt, alle vier Pferde quergespannt in einer Reihe, zwei hohe Kosakenpferde in der Mitte, zwei kleine Steppenthiere zur Seite. Mein Koffer erhielt hinten auf zwei langen Stangen Platz und im Galopp ging's zur Stadt hinaus.

Plötzlich klirrte das eine der Fenster, die Scheiben zersprangen, ich hörte einen Schrei. Am Boden lag ein altes Botenweib, in den Lumpen des Elends und im Schmutze der Armuth, das mein Kutscher überfahren hatte. Zuckerhüte und Cigarren, welche die Frau zu tragen hatte, lagen im Dünensande.

Wie ein Tiger auf die Beute, stürzte sich mein Kutscher auf die Waaren. Er nahm dem armen Weibe „zur Entschädigung“, wie er sagte, die ganze Habe für die alten blinden Glasscheiben. Die Frau lag vor mir in Thränen auf den Knieen und rang die Hände um Erbarmen.

„Du giebst sofort die Sachen zurück,“ befehle ich dem Kutscher, "ich bezahle das Fenster!“

Der Halunke murmelt einen lettischen Fluch zwischen den Zähnen, sieht mich boshaft an, aber gehorcht.

Die Ostsee lag dicht vor mir. Im zauberhaften Morgenlichte glänzte der Kamm der Wellen und die Möven tummelten sich mit langsamem Flügelschlag über der weiten Wasserwüste.

Der Kutscher trieb mein Viergespann den Strand entlang ins Seewasser, so daß die Pferde bis über dem Kniegelenk im flachen Wasser gingen und die alte Kutsche bedenklich wackelte. Links zwischen Dünenhügeln blickten einsame strohgedeckte Fischerhütten den polnischen Dorfhäusern ähnlich, hervor, von dunkeln Föhren überragt. Vortreffliche Motive zu Stimmungsbildern!

Der Weg windet sich im Dünensande aufwärts. Aesende Rehe schauen uns mit den großen dunkeln Augen an und eilen dem Walde zu. Die Einsamkeit umgiebt uns.

Der ernste Föhrenwald, welcher sich auf dem hellen Dünenboden erhebt, nimmt uns auf. Unter den Stämmen wuchern üppiges Farrnkraut und die wilde Waldhimbeere, auf den Blättern und Spinnweben funkelt der Morgenthau wie zahllose Brillanten. Mir wird das einsame Fahren in geschlossener Kalesche langweilig, ich lasse halten und setze mich zum Kutscher auf den Bock. Er singt ein lettisches Volkslied.

"Bräutlich Mädchen, goldgelocktes,
was hast du für schöne Haare!
Alle meine Klugheit hast du
In dein schönes Haar verstricket!“

Von Zeit zu Zeit hielten wir im Walde vor einem Kruge, theils um die Pferde zu füttern, theils weil der Kutscher Schnaps trinken wollte. Es sei so schrecklich kalt, meinte er.

Die Sonne ging unter, als wir vor dem einsamen Waldkruge Meirischken anlangten. Während wir weiterfuhren, wechselte ein Hase quer über den Weg. Künstler, Jäger und Seeleute sind besonders abergläubisch, aber auch Feldherren, wie Napoleon und Wallenstein, waren es, welche an die Dies fasti und nefasti – Tage, die Glück und solche, die Unglück bringen – glaubten, und Tycho de Brahe kehrte wieder um, wenn ihm eine alte Frau oder ein Hase über den Weg lief.

Ich mußte fortwährend an meinen Koffer denken. Für die Besuche bei hohen russischen Beamten, von denen ich die Erlaubnis zu Zeichnungen für die "Gartenlaube“ einholen mußte – sowie zu den durch warme Empfehlungen von hoher Stelle in München vielfach an mich ergangenen Einladungen hatte ich viel Garderobe mitgenommen, die ich nicht gestohlen sehen wollte. Bei jedesmaligem Hallen versicherte ich mich vor dem Weiterfahren, ob man Koffer noch fest genug aufgeschnürt sei; die sechs fingerdicken Stricke hielten ihn aber so eng umschlossen, daß er auch beim kräftigen Ansetzen der Schulter sich nicht rührte.

"Der Koffer ist wohl sehr werthvoll?“ fragte der mich beobachtende Kutscher.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1888, Seite 732. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_732.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)