Seite:Die Gartenlaube (1888) 699.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„O, ich bin nicht so schutzlos, als Sie glauben!“ sagte Alice beinahe muthwillig. „Dort oben ist Herr Waltenberg mit Erna und Wally. Ich bin nur zurückgeblieben –“

„Weil Sie ermüdet sind?“ fiel er besorgt ein.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

„O nein, ich wollte nur meine Kräfte schonen für den Rückweg. Sie haben mir diese Schonung ja zur Pflicht gemacht. Sehen Sie, wie gehorsam ich bin!“

Sie rückte seitwärts und schien zu erwarten, daß der Doktor an ihrer Seite Platz nehmen werde; er zögerte einige Sekunden lang, dann aber folgte er der wortlosen Einladung und ließ sich gleichfalls auf dem moosigen Sitze nieder. Sie waren sich ja nicht mehr fremd und hatten sich in den letzten Monaten fast täglich gesehen und gesprochen.

Alice fuhr unbefangen und heiter fort zu plaudern; es lag eine harmlose, unschuldige Freude in dieser Heiterkeit, die Freude der neu erwachenden Lebenskraft, die sich endlich dem jahrelangen, schweren Druck der Krankheit entwindet und halb schüchtern noch, halb vertrauend dem neuen Dasein entgegenblickt. Man konnte nicht einfacher und kindlicher plaudern als diese junge Millionärin, die so gar nicht geschaffen war für die glänzende Stellung, welche der Reichthum ihres Vaters ihr zuwies. Hier, wo sie auf dem Moosboden des Waldes saß, ohne all den Schmuck und die Pracht, die sie stets nur wie eine Last trug, umspielt von den goldigen Sonnenstrahlen, die auf das weiche lichtbraune Haar und das zarte, von einer leisen Röthe angehauchte Antlitz fielen, war ihre Erscheinung von einer unaussprechlichen Anmuth und Liebenswürdigkeit.

Der junge Arzt zeigte sich dagegen ungewöhnlich ernst und schweigsam; er zwang sich wohl zu einem Lächeln, zu heiteren Antworten, aber man sah es, daß sie ihm nicht von Herzen kamen. Auch Alice bemerkte das endlich, sie wurde ebenfalls stiller, und als zuletzt ein längeres Schweigen eintrat, ohne daß Reinsfeld den Versuch machte, es zu brechen, fragte sie:

„Herr Doktor – was ist Ihnen?“

„Mir?“ fuhr Benno auf. „O nichts, durchaus nichts!“

„Ich fürchte eher das Gegenteil, Sie waren so eilig vorhin und sahen so ernst und traurig aus und ich bemerke das nicht zum ersten Male. Schon seit Wochen ist es mir vorgekommen, als bedrücke und quäle Sie etwas, so sehr Sie sich auch Mühe geben, es zu verbergen – darf ich nicht wissen, was es ist?“

(Fortsetzung folgt.)




Die Fahrt nach Torcello.
Der Erinnerung eines Künstlers nacherzählt von Karl Konrad.

Der Frühling des Jahres 1841 zog so heiß wie nur irgend einer seiner Vorgänger über die italischen Gefilde hinweg, die, seinem sengenden Hauche widerstandslos offen, ihm erst an ihrer nördlichsten Schwelle den eisgepanzerten Schild der Alpenwelt vorhalten. Von dort bringt der Nachtwind erfrischende Lüfte in die märchenhafte Lagunenstadt, deren eigenthümlich poesievolles Wasserleben sich niemals heiterer und farbiger entfaltet als im Frühjahr, niemals zahlreichere Scharen fremder Gäste in ihren Zauberbann zieht als eben dann. Auch ich hatte mich mit Pinsel und Palette vor der römischen Hitze in ihre leise plätschernden Kanäle, ihre kühlen Marmorpaläste und geheimnißvoll dämmernden Kirchenhallen geflüchtet, die dem Architekturmaler eine nie zu erschöpfende Fundgrube der köstlichsten Motive darbieten.

Dort verrann der Tag in traulicher Abgeschlossenheit, während die sinkende Sonne mich auf dem kühlgewordenen, musikdurchrauschten Markusplatze mit den deutschen Landsleuten, welchen ich in der unter österreichischer Herrschaft stehenden Stadt zahlreicher als in jeder anderen Italiens begegnete, zusammenführte. Zwischen dem heiteren Völkchen junger Künstler und Litteraten machte ich manche anregende Bekanntschaft; keine unter allen aber gewährte mir ein höheres Interesse als die des Dichters Heinrich Stieglitz, dessen langjähriger Aufenthalt in meiner Vaterstadt Leipzig und seine verwandtschaftlichen Beziehungen daselbst zudem mancherlei Berührungspunkte zwischen uns ergaben. Der Name Stieglitz war damals ein viel genannter. Waren doch erst wenige Jahre entschwunden, seitdem der freiwillige Opfertod einer jungen, schönen, geistvollen und liebenswürdigen Frau, welche die vermeintlich nur schlummernde That- und Schaffenskraft ihres geliebten, in seiner dichterischen Bedeutung von ihr stark überschätzten Gatten durch einen großen, vertiefenden Schmerz aufrütteln wollte – eine That, von einigen als erhabenster Ausdruck reinster und selbstlosester Liebe gepriesen, von anderen als traurige Verirrung eines exaltirten, krankhaft überreizten Gemüthes bedauert – die Augen von ganz Deutschland auf sich und auf denjenigen gerichtet hatte, dem dieses Opfer – leider so nutzlos – gebracht worden war. Denn der Geist des Dichters war seit dem schrecklichen, so tief in sein Leben einschneidenden Ereigniß nur noch größerer Verdumpfung, sein Gemüth noch tieferer Verbitterung anheim gefallen. Eine quälende innere Unruhe trieb ihn fortan rastlos von Ort zu Ort und ließ ihn, der von Haus aus mit einer reichen Phantasie und echtem dichterischen Feuer begabt war, jede größere Aufgabe fliehen. Durch die Großmuth eines reichen Verwandten, des Petersburger Krösus Baron L. v. Stieglitz, jeder äußeren Sorge enthoben, lebte er nur noch seinen Neigungen, zur Zeit also in Venedig, hier vorzugsweise mit geschichtlichen Studien beschäftigt.

Die äußere Erscheinung des damals 38jährigen Mannes war eine angenehme, wenn sie auch nicht gerade den Dichter und Denker augenscheinlich verrieth. Seine Gestalt war untersetzt und ein wenig zur Korpulenz neigend, sein Antlitz blaß und nicht besonders ausdrucksvoll. Wohl konnte er im Kreise aufgeräumter Landsleute heiter und gesprächig sein, für gewöhnlich aber mahnten ein schweigsames Wesen und ein schwermüthiger Ausdruck in den Augen an das große Leid seines Lebens. Mir schloß er sich seit dem ersten Tage unserer Bekanntschaft enger an und oft durchstreiften wir selbander die alten, zerfallenden Dome und Paläste der Dogenstadt, in welchen er den Spuren der Geschichte nachging, ich nach Motiven für meinen Pinsel suchte. Dabei erzählte er mir mehrfach von der kleinen vergessenen Laguneninsel Torcello, auf welcher ehedem eine reiche und berühmte Stadt gestanden, deren Reste dem Maler möglicherweise noch reichere Ausbeute gewähren dürften, als dem Geschichtsforscher. Meine Wißbegierde ward schließlich rege und eines Abends, als wir in traulichem Gespräch den heiter belebten Canale grande hinabgondelten, schlug ich vor, am folgenden Tage einen gemeinsamen Ausflug nach dem geheimnißvollen Eiland zu unternehmen.

Die Sonne des 10. Juni schoß glühende Pfeile vom wolkenlosen Himmel herab, die Lagunenwellen schlichen in träger Ruhe zu den Füßen des Dogenpalastes und die Inseln jenseit der Giudecca schwammen in heißem, blaugrauem Dunst. Schon frühzeitig entführte uns eine vierruderige, schwarz ausgeschlagene Gondola unserem Kaffeehause an der Riva del Schiavoni, an Venedigs Uferpalästen vorbei, hinaus in die blaublitzende Wasserweite. Unter dem melodischen Gesang unserer trotz der Hitze behende rudernden Gondolieri schwanden San Michele, der fluthumrauschte Friedhof der Lagunenstadt, und die städtisch bebauten Inseln Murano und Burano an uns vorüber, tauchten die hohen Glockentürme Venedigs hinter uns in den blauen Duft der Mittagsgluth, rückte die Küste des Festlandes mit seiner stolzen, den Horizont begrenzenden Alpenmauer scheinbar immer näher heran.

Endlich, nach fast dreistündiger Fahrt, landeten wir am ersehnten Ziele. Das also war Torcello! Wie von einem Märchentraum fühlten wir uns umsponnen, noch ehe wir den Fuß auf die sonnendurchglühten Steinfliesen des Ufers gesetzt hatten. Die Ruhe der Siesta lagerte über dem kleinen, wie ausgestorben erscheinenden Eilande; die warme, stille, von blauen Fliegen leise durchsurrte Mittagsluft trug nur den Schall der Kirchenglocken von Burano undeutlich zu uns herüber und aus den Dächern ärmlicher Uferhütten nisteten einige buntschillernde Tauben. Sonst war weit und breit nichts Lebendes zu sehen, noch zu hören. Wenige Boote standen unbenutzt auf den heißen sandigen Strand

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 699. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_699.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2018)