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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

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In der Schutzhütte.

Novellenkranz von Johannes Proelß.
(Fortsetzung.)
7. Heimkehr.

Ob die entthronte Gletscherkönigin des melancholischen Engländers, wie sie die Herzenskönigin des kühnen Alpinisten geworden, nicht schließlich doch noch seine Frau werden würde: diese für ihr echt weibliches Gemüth gar wichtige Frage wollte eben Frau Kurz zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Betrachtung über die wunderthätige Macht des ehestiftenden Gottes machen, als sie von ihrem Gatten mild beschwichtigend unterbrochen wurde:

„Du hast ganz recht, Mutting, es ist oft wunderbar, auf wie gewundenen, auseinanderlaufenden Wegen das Schicksal die Menschen, die es für einander bestimmt hat, bis zur endgültigen Vereinigung führt; die theoretischen Erörterungen aber wollen wir lassen, da ja auch meine Geschichte und die erfreuliche Thatsache, daß wir hier sozusagen als Jubelpaar voll Heiterkeit neben einander sitzen, die Sache genugsam veranschaulichen. Es ist ohnehin spät geworden und für die Herrschaften daher schon eine Zumuthung, nach all den geistigen Genüssen, die sie gehabt, nun noch meine Geschichte mit anzuhören, und ich dächte, liebe Alte, ein Glas gut gebrauter Grog wird allen eine willkommene Aufmunterung sein. Wir haben ja dort in unserer Handtasche noch eine unangebrochene Flasche alten Cognac und heißes Wasser giebt’s in der Küche – nicht wahr, Bärbeli, Du holst uns welches herauf, auch Gläser und Löffel, wenn’s giebt – Zucker haben wir auch … also man zu! Ich muß gestehen, bei Ihrer packenden Erzählung, Herr Whitfield, mit ihren grausigen Gletscherabenteuern ist’s mir ganz eisig durch die Glieder gefahren und da muß ich schon ein bißchen nachheizen.“

Bald hatte ein jeder sein dampfendes Glas Grog vor sich stehen und alle rückten in angeregter Stimmung dichter an den Tisch, als Herr Kurz in behaglichem Tone begann:

„Wenn ich Ihnen leider auch nicht in Aussicht stellen kann, daß das Sprichwort ‚Wer zuletzt lacht, lacht am besten‘ sich an dem bewahrheiten werde, womit ich unser Quodlibet von Erzählungen nun beschließen will, so habe ich als letzter sicher den einen Vorzug, daß ich in einer wahrhaft gehobenen, durch das Vorangegangene erst erzeugten Stimmung das Wort ergreife. Wollte ich aus der Fülle meiner Reiseerlebnisse nur das ins Auge fassen, was in letzter Zeit mir begegnet, so hätte ich leichte Arbeit; ich hätte dann eben nur schlankweg zu erklären, daß der hier mit Ihnen in so anregender Weise verbrachte Abend mein schönstes Reiseerlebniß seit langer Zeit war. Dies ist kein leeres Kompliment für die Vorredner. Bunt zusammengewürfelt, vom Zufall in Gestalt widrigen Wetters hier in einer nur dürftig ausgestatteten, wenn auch gastlichen Herberge zusammengebracht, hat unser kleiner Kreis ohne Verabredung und künstlich ersonnenen Plan und nur von der Absicht geleitet, mit Hilfe schöner Erinnerungen die Langeweile zu vertreiben, etwas wie eine wohlgegliederte Symphonie hervorgebracht, deren Thema lautet: welch‘ köstlich Ding ist doch das Reisen! Welche Fülle an heiteren und großartigen Eindrücken es vermittelt, wie es beglückend, befreiend, veredelnd und stärkend wirkt, wie es die Kunst und die Wissenschaft fördert, wie es Herzen in Freundschaft und Liebe zusammenführt, Vorurtheile überbrückend und dem rein Menschlichen Geltung verschaffend, all dies haben uns die so verschiedenen Geschichten einiger weniger grundverschiedener Menschen eindringlich zu Gemüthe geführt. Ob die Musik des einen Stückes allegro oder andante klang oder sich als scherzo entfaltete, alle Melodien vereinigten sich zu einem Lobgesang auf das Reisen. Ich soll nun das Finale liefern. Es hieße, das Spiel verderben, wollte ich jetzt absichtsvoll und so gut ich’s vermöchte die bisherigen Melodien in einander zu weben versuchen zu einem kunstgerechten Schlusse. Mich drängt es, eine einzige herauszugreifen und an dieselbe eine neue anzuknüpfen; vielleicht daß dabei auch die anderen gelegentlich mit aufklingen.

Ein Gemeinsames hatten alle Ihre Geschichten: Ihre Thüringerwald-Pfingstidylle, Herr Doktor Helbig, so gut wie Ihr Abenteuer im ewigen Eise, Herr Whitfield, sie alle haben bezeugt, daß das Reiseglück die Menschen nicht nach dem Reisepaß fragt, sondern unbekümmert nur Unterschiede und Vorurtheile, die aus der Abstammung und Herkunft der einzelnen sich herleiten, seine Segnungen spendet. Was Schiller von der Freude singt:

‚Ihre Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt -‘

haben Sie alle unwillkürlich dem Reisen nachgerühmt. Der Münchener Maler, Herr Breitinger, führte, vom Reiseglück gesegnet, die holländische Kunstgenossin als Braut heim; der radikale Rheinländer knüpfte in der Freiheit der Berge sein Lebensglück an das der Tochter einer österreichischen Aristokratenfamilie; das brave Bärbeli hat bekannt, daß sie die glückliche Wendung in ihrem kleinen Liebesromane der Wirkung des Fremdenverkehrs verdankt, und Herr Whitfield kümmerte sich ebenso wenig um die Angaben des ‚Passes‘ seiner Gletscherkönigin, da sich sein Herz ihr in Liebe zuwandte, wie Herr Doktor Helbig um denjenigen der kleinen Waldnymphe, deren Herz er so schnell eroberte und so schnell vergaß.“

„Doch nicht, verehrter Herr Kurz. Vergessen hab’ ich sie nicht.“

„Um so besser paßt auch Ihr Beispiel zu dem, was ich ausführe. Dieses in unserer Zeit der Nationalitätenverhetzung besonders erhebende Vorkommniß einer Uebereinstimmung grundverschiedener Menschen in der Bethätigung echter, freier Humanität hat mich im Innersten erquickt. Denn ein Deutscher in meinen Jahren, der von Jugend auf gleich vieltausend anderen an sich selbst es erfahren hat, daß kein einzelner, kein Stamm, keine Nation für sich und durch sich existiren, sie vielmehr nur Dank dem wechselseitigen befruchtenden Verkehr mit ihrer Mitwelt leben, wachsen und gedeihen können, der muß mit tiefem Ingrimm wahrnehmen, wie die an Bildung reichsten Völker, die doch nur kraft dieses Zusammenhangs zwischen Nationen und Generationen aus Barbaren zu Kulturvölkern geworden sind, ihr höchstes Gut, eben die Humanität, mit Füßen treten und verleugnen! Man kann ja heutzutage kein Zeitungsblatt zur Hand nehmen, ohne Symptomen davon oder Klagen darüber zu begegnen. Daß das nur eine vorübergehende Krankheit ist, für die uns Deutschen, wie der verstorbene Kaiser Friedrich als Kronprinz sagte, glücklicherweise sogar die Bezeichnung fehlt, in dieser Zuversicht bestärkt mich vor allem das Bewußtsein, daß der sicherste Talisman gegen dies Uebel eben das Reisen ist und daß das Reisen, die Reiselust und das Reisebedürfniß, das Reisen zur Erholung wie im Dienst von Handel und Wandel, bei seiner steten Wechselwirkung mit der glänzenden Entwickelung der Verkehrsmittel, nur immer mehr zunehmen kann und selbst die Unbemitteltsten und am entlegensten Wohnenden mit seinen Wohlthaten berühren muß. Mein ganzer Lebenslauf, auf dessen unruhige wechselvolle Gestaltung ich jetzt aus bemoostem Schwabenalter heiter zurückblicke, war in ganz ungewöhnlicher Weise dazu angethan, diese Erkenntniß in


Emin Pascha.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 621. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_621.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2018)