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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Ich glaube, ich wurde ihm etwas unheimlich, und es war ihm eine nicht unliebe Ablenkung, als Wiebke wieder erschien, um die zweite Flasche auf den Tisch zu stellen. Der starke Wein fing an, ihm zu Kopf zu steigen, und mit einem zudringlichen Blick schaute er sie an. Aber meine Gegenwart behinderte ihn offenbar. Das Mädchen ging schnell davon.

Ich war in einer gräßlichen Stimmung, die in einer Art wilder Lustigkeit losbrach. Aber dennoch war es mir, als ob durch all das Dunkel des Jammers jener Hoffnungsfunken tief unten im Herzen heller aufleuchtete.

„Giebt’s denn keine Möglichkeit, Hildegard aus den Händen dieses Gesellen zu retten? Sie kann ihn doch nicht lieben, und er liebt sie ja auch nicht!“ sagte ich mir, und dabei schlug ich ihm vertraulich auf die Schulter und sah ihm forschend, lauernd in das geröthete Gesicht: „Sie scheinen mir auch kein Kostverächter zu sein! Ei, ei, so ein bißchen Türke? Was? Hat ’s die Kleine hier Ihnen angethan?“

„Hören Sie ’mal, die kann ja einen verständigen Mann irre machen; fällt mir natürlich nicht ein, ihr den Hof zu machen! Aber Sie wissen ja auch als Jurist und Mann von Welt: so ein Küßchen in Ehren –“ raunte er halbtrunken –

„Soll niemand wehren!“ rief ich – und ich malte mir mit lebhaftem Behagen das Bild, wie dieser Herr Rittergutspächter von einem Haifisch unter Wasser gezogen wurde.

„Wollen wir nicht einen regelmäßigen Frühschoppen gründen hier in diesem vorzüglichen Lokal?“ schlug er weinselig vor, als er sich erhob, um in sein Boot zu gehen. „Sie gefallen mir! Wir müssen überhaupt zusammenhalten; was meinen Sie z. B. zu einer gemeinsamen Wasserpartie, einer Fahrt in See – in Ihrem großen Boot da? Und dann nehmen Sie diese allerliebste kleine Leuchtthurmkrabbe wieder als Steuermann mit, wie damals; sah famos aus, als Sie abfuhren; meine Braut und ich standen auch auf dem Damm; aber wurden doch ein paar schlechte Witze über Sie gemacht.“

Mich überlief es wieder kalt trotz der erhitzenden Gluth des Weines.

„Nun ja, wollen sehen, wollen sehen!“ rief ich ihm nach; „besuchen Sie mich nur recht häufig. Am Vormittag bin ich aber meistens draußen zum Baden; am Nachmittag –“

„Schön, schön, also vormittags baden Sie! Freut mich, lassen Sie sich ’s gut bekommen,“ rief er mit etwas unsicherer Stimme aus dem Boot; „Donnerwetter, Ihr Wein ist zu stark zum Frühschoppen! – Komme bald wieder; riesig gemüthlich bei Ihnen – grüßen Sie –“ mehr hörte ich nicht; denn das Boot flog vor der Brise dem Lande zu.


Tage waren vergangen. Theils mit, theils ohne mein Zuthun hatte er mich mehrmals verfehlt.

„Nehmen Sie sich in Acht,“ sagte Brar Volkers, als ich an einem der folgenden Nachmittage ins Boot ging; „wir bekommen heut noch über kurz oder lang schlecht Wetter aus Nordwest. Die Stille seit gestern und die schwere Dünung gefällt mir nicht, der Himmel noch weniger. Darauf gebe ich mehr als auf die Sturmwarnungen der Seewarte. Sehen Sie nach oben; da hängt der Warnungsball schon seit heute vormittag! – Und jetzt läuft die Fluth schon; kann gut werden; vorgestern war Vollmond!“

„Ich will auch nicht weit,“ entgegnete ich; „aber ich muß hinaus. Komme zur rechten Zeit wieder!“

„Wenn die Fischer, die auf die hohe See gefahren sind, nur auch rechtzeitig ankommen!“ brummte er bekümmert. „Kommen sonst schwer an Land und können an der Riesenbrandung kentern und vollschlagen. Die volle See steht mit Nordwest hier auf die Dünen; und wir haben nicht umsonst eine Rettungsbootstation drüben in Fischbeck.“

Er ging und ich setzte Segel. Aber kaum, daß die flaue Brise mich vorwärts brachte. Ich griff nach den Riemen und pullte kräftig mit. Allmählich kam etwas mehr Wind auf, und ich ließ mich treiben, die Arbeit einstellend. – Da saß ich nun wieder, in meine schweren Gedanken versunken. Sollte ich Hildegard warnen? Sie wurde verrathen von ihm; ich brauchte ja nur Wiebkes Zeugniß beizubringen. Aber nein, und abermals nein. Sie hätte mir und ihr nicht geglaubt! Und in welchem traurigen Licht hätte ich als Kläger gegen ihn dagestanden! Hätte es nicht wie ein jämmerliches Manöver der Eifersucht ausgesehen? Nein, es ging nicht! Sie mußte ihr Geschick erfüllen – und ich auch. – So hatte ich wohl eine Stunde gesegelt. Plötzlich wurde ich aus meinem trüben Sinnen geweckt. Ein Windstoß fauchte über die See her, das stille Wasser schaumig vor sich her aufregend und mir in die Segel fallend, daß ich schnell bei der Hand sein mußte, damit mein Boot sich nicht zum Kentern legte. Dann ward ’s wieder still. Aber vom Lande her grollte und rollte die zunehmende Brandung. „Es ist die steigende Fluth!“ sagte ich mir und steckte sicherheitshalber ein Reff ein. Die Brise wurde stetiger, stärker. Dann und wann fuhr wieder eine sausende Bö einher. Das Wasser sah grau und trübe aus; die See ging hohl, weiße Wellenköpfe kamen auf und verliefen sich, waschend und spülend. Am Himmel zogen eilige Wolken dahin, mehr und mehr sich verdichtend zu bleifarbiger Decke.

„Es giebt am Ende doch etwas!“ dachte ich; „aber vor Nacht kann ’s nicht schlimm werden.“

Ich kannte die Nordsee nicht! – Als die Böen allmählich stärker und häufiger einsetzten, und als der Wind plötzlich wirklich nach Nordwest umsprang, gleichzeitig an Kraft zunehmend, da wurde mir die Geschichte aber doch bedenklich, und ich machte Anstalten zum Umkehren. Jetzt standen die Segel voll, und mit eiliger Fahrt flog ich dahin. Ich war durch mein Manöver näher an Land gekommen, und lauter donnernd rannten die Fluth- und Sturmseen schnell fortschreitend auf den Strand, daß ich die weiß aufrauschende lange Zeile auch mit dem Auge deutlich erkennen konnte. Wenn die Fluth erst mit ganzer Kraft einsetzte – jetzt war sie noch an Anfang – dann konnte das Schauspiel recht großartig werden – wenn die wüthende See erst alle Kräfte aufbot, um die Dünen zu stürmen: Dort, gerad voraus, lag ragend der große dunkle Granitblock, der seltsame, einsame, wogenumspritzte Findling, vor dem mich Wiebke einst gewarnt hatte – wo das Kind ertrunken sein sollte; es sollte ja noch da spuken, hatte sie gesagt. Ich blickte hinüber – und es lief mir trotz jeglichen Mangels an Gespensterglauben doch plötzlich kalt über den Rücken: wahrhaftig, da stand es ja in seinem Trauerkleid und winkte warnend von der Höhe des Steins zu mir herüber! Ich starrte und starrte hin – da bekam ich eine See über und das Segel fing an zu schlagen, eine bessere Warnung jedenfalls für unaufmerksame Schiffer, auf ihr Fahrzeug zu achten und alle Kraft zusammenzunehmen, als die wesenlosen Zeichen eines Schemens. Ich faßte die Ruderpinne sicherer und hielt ab; aber ich mußte doch wieder hinschauen: da stand das Gespenst ja aber noch immer und winkte! Ich war dem Stein näher gekommen. Jetzt sah ich mehr, es war eine Gestalt von Fleisch und Blut, mit im Winde wehendem losen Haar – eine Frauengestalt in schwarzem Kleid, ein flatterndes weißes Tuch in der Hand; eine, die um Hilfe winkte, und welche die plötzlich mit dem Sturm einbrechende, schnell steigende Fluth vom Rückweg zum Lande abgeschnitten hatte.

Ich legte das Ruder und holte die Schoten; in schneller Fahrt schoß meine Jolle aus den Stein zu ins flache Wasser und in die erste Brandung hinein. Und wie ich noch näher und ganz nahe heran kam, da fing mein Herz an zu hämmern; was ich von Anfang geahnt hatte – jetzt war es Gewißheit: die Frau auf dem Stein war Hildegard!

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Die Kinderpflegeanstalt in Norderney. (Mit Illustration S. 485.) Längst hat man erkannt, wie heilsam ein längerer Aufenthalt an der See für skrophulöse Kinder ist. Es ist schon länger als ein Jahrzehnt, daß eine von dem Diakonissenmutterhause Henriettenstift in Hannover erbetene Schwester nach Norderney kam, um eine solche Pflegeanstalt zu übernehmen. Die Anfänge waren sehr bescheiden; in einem primitiven Häuslein wurden die ersten Pfleglinge untergebracht; doch trotz der Thätigkeit eines Komitees und vieler freiwilligen Spenden wollte die Sache nicht recht in Fluß kommen. Die Dorfbewohner fürchteten die Nachbarschaft eines Krankenhauses und außer dem erwähnten Häuslein konnte das Komitee kein anderes zur Miethe erhalten. Allmählich erst konnte es der Vorstand wagen, die ihm unter sehr günstigen Bedingungen angebotene bisher gräflich Knyphausensche Villa zu kaufen, die im Oktober 1876 bezogen wurde; sie steht im Dorfe, freundlich umgeben von einem eigenen und dem fiskalischen Georggarten, dem Strande ebenso nahe wie dem Warmbadehause. Die Räume wurden zweckentsprechend eingerichtet; die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_499.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)