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verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

ich bin so ganz auf Ihre Nachsicht angewiesen; die Noth zwingt mich zu einer so schrecklichen Bitte – meine Großmutter hält mich so knapp mit Geldmitteln; zu Frau Doktor kann ich nicht gehen, sie würde es Großmama schreiben, – leihen Sie mir eine Kleinigkeit!“

Ich sah in höchstem Erstaunen auf die Bittende. Sie stand da, hoch aufgerichtet, aber die Wimpern gesenkt, und auf dem schönen Gesicht jagte sich Röthe und Blässe im raschen Wechsel.

„Ich habe augenblicklich so gar Nichts mehr,“ flüsterte sie und ihre zitternde Hand faßte nach dem Sammetband am Halse, an dem heute zum ersten Male das Kreuz fehlte, „und ich gebrauche so nothwendig –“

Ich ging zu meiner Kommode hinüber, schloß auf und nahm die kleine Schatulle heraus, die mir Großpapa mit lauter funkelnagelneuen Silberstücken gefüllt zum letzten Geburtstag verehrt hatte. „Wie viel?“ fragte ich über die Schulter.

„Wie viel?“ wiederholte sie. „Mein Gott, Miß Mary, zehn Thaler – verzeihen Sie –“

Das Geld glitt in ihre Hand; sie sah mich dabei nicht an; sie starrte auf die Schatulle, dankte auch nicht. Ihre kleine Hand ballte sich um das Geld zur Faust, und so stand sie noch, als ich, den Schub schließend, mich umwandte und ohne ein weiteres Wort das Zimmer verließ.

(Fortsetzung folgt.)




Skizzen von einer Sängerfahrt nach Amerika.

Von Herm. Mohr (Königl. Musikdirektor in Berlin).
II.0 BuffaloChicago.

Ein glücklicher Zufall brachte mich noch einige Stunden vor Abgang des Zuges, der uns nach dem Westen führen sollte, mit dem Bassisten Herrn Max Heinrich vom Metropolitan Theater in New York zusammen, der als Solist beim Sängerfest in Milwaukee mitzuwirken hatte und den ich bereits im „Liederkranz“ kennen und schätzen gelernt. Rasch entschlossen erklärte er sich bereit, die Reise gemeinschaftlich mit uns zu machen, und das war wieder sehr erwünscht, denn er war ein braver Dolmetscher, wenn unsere Weisheit zu Ende war. Durch die freundlichen Bemühungen des Eichenkränzlers Herrn Kremer waren mir von Milwaukee aus die Eisenbahntickets für mich und meine Tochter zugegangen; der Reisekoffer war durch die Expreßcompagnie bereits nach dem Depot befördert, und voller Erwartung einer ersten und zwar längeren Eisenbahnfahrt in der neuen Welt betraten wir bei eingetretener Dunkelheit den Bahnhof. Gegen Vorzeigung des Fahrbilletts wurde eine Blechmarke, mit einer Nummer und der Angabe des Bestimmungsorts versehen, an meinem Koffer befestigt; eine gleichlautende Marke, Check genannt, wurde mir eingehändigt, und das war die einzige Mühe, die ich vor dem Einsteigen hatte. Vom Wiegen des Gepäcks, von Ueberfracht resp. Bezahlen derselben an der Kasse, von Trinkgeldern etc. war keine Rede, weil die Beförderung des Reisegepäcks einfach frei ist. Diese Einrichtung ist eine nicht hoch genug zu schätzende Erleichterung des Verkehrs auf den amerikanischen Eisenbahnen. Die noch gelösten Tickets zu je 2 Dollar berechtigten zur Benutzung des Schlafwagens, den wir somit bestiegen. Der Kondukteur forderte im letzten Augenblick die Mitfahrenden zum Einsteigen auf, und geräuschlos, ohne ein Glockenzeichen oder Pfeifen der Lokomotive, setzte sich der Zug 9 Uhr 15 Minuten langsam in Bewegung. Sprang irgend ein Passagier, der sich verspätet, auf das Trittbrett, so kümmerte dies weiter Niemand. Ueberhaupt herrscht auf den Eisenbahnzügen viel mehr Freiheit und Ungezwungenheit als bei uns. Man kann durch die Wagen hindurch gehen vom ersten bis zum letzten. Ein besonderer Waggon ist für Raucher reservirt: auch die Plattform der Wagen wird unter Umständen von diesen benutzt. An den Ausgängen der Wagen wird allerdings auf einer Tafel vor dem Aufenthalt auf der Plattform gewarnt; mein Kondukteur sagte mir jedoch, als ich den Wunsch äußerte, auf die Plattform des letzten Wagens hinaustreten zu dürfen: „Thun Sie, was Sie wollen! Sie haben hier zu Lande volle Freiheit; Sie können sogar herunterspringen; Sie sind eben nur gewarnt.“ Das Hinunter- und sogar Aufspringen auf den langsam fahrenden Zug macht der Amerikaner mit Geschick und Eleganz. Wenn der Zug oft meilenlang durch die Vorstädte einer größeren Stadt mitten durch belebte Straßen einfährt, springen Herren mit der größten Seelenruhe an den einzelnen Querstraßen vom Zug, während wiederum Zeitungsjungen sich überbieten, so schnell wie möglich den Wagen zu erklimmen, um die neuesten Nachrichten zuerst an den Mann zu bringen.

Was das Innere der Wagen betrifft, so muß ich bekennen, daß in denselben eine ungemeine Eleganz, sogar ein Luxus herrscht, wie man dies bei uns im Allgemeinen nicht kennt. Bis ins Kleinste ist für jeden Komfort gesorgt. Die Sitze sind mit Plüsch gepolstert oder mit Rohrgeflecht überzogen; die Fenster, in drei Abtheilungen, sind hoch und breit; Spiegel zieren die Mahagoniwände und in den Ecken der Wagen finden sich Blechsäulen mit Eiswasser nebst Trinkgeschirr. Wenn man bedenkt, daß der Fahrpreis auf den amerikanischen Bahnen durchaus nicht theurer als bei uns ist, daß die Wagen gewissermaßen nur eine Klasse haben, daß – abgesehen von der Benutzung der Schlafwagen und Pullman’schen Palastwagen, für welche noch eine Extravergütung zu entrichten ist – alle diese Annehmlichkeiten dem Unbemittelten sowie dem Reichen zugänglich sind, so hat man alle Ursache, diese humanen Einrichtungen lobend anzuerkennen.

Von den Anstrengungen des Tages ermüdet, vertrauten wir uns ziemlich sorglos unserem dahinbrausenden Schlafkabinet an, und wenn uns Etwas an dem ruhigen Schlummer hinderte, so war es nur das unleidliche Gequarre eines noch sehr jungen Yankee in einem Nebenkoupé.

Der Morgen war angebrochen; ich öffnete die Vorhänge des Wagenfensters, und vorüber flogen, von der Morgensonne glänzend beleuchtet, die freundlichsten Landschaften mit ihren Waldungen und Flüssen, mit den zerstreut umherliegenden Farmen, umgeben von Mais-, Getreide- und Kartoffelfeldern, von Wiesen und Triften mit weidenden Viehherden. Es waren dies herrliche Bilder, welche ich so recht ungestört auf meinem Lager genießen konnte. Wir machten Toilette, wozu alle Einrichtungen aufs Bequemste vorhanden waren, und bald begrüßten sich Bekannte und Unbekannte mit einem freundlichen „Good Morning“. Auf einer der nächsten Stationen fand ein kurzer Aufenthalt statt, um ein warmes Frühstück einnehmen zu können. Die Station hieß Syrakus.

„Ei, der Tausend! das ist ja ein klassischer Name,“ äußerte ich zu unserm Reisegefährten Herrn Heinrich.

„O, mein lieber Freund, wir befinden uns hier in der neuen Welt auf antikem Boden. Die Stationen Utica und Rome haben Sie nur unterwegs verschlafen.“

Nach vierzehnstündiger Fahrt lief unser Zug in den keineswegs schönen Bahnhof von Buffalo ein. Ueberhaupt habe ich selten einen amerikanischen Bahnhof entdeckt, der annähernd einen Vergleich mit unsern prachtvollen Bahnhofsbauten in Deutschland aushält. Zwischenstationen haben meistens nur unansehnliche Holzhäuser. Eine Depesche von New-Yorker Freunden hatte den Vorstand der vereinigten Sänger Buffalos von meiner Ankunft in Kenntniß gesetzt, aber irrthümlicher Weise die Station Suspension Bridge am Niagara als Ort meiner Ankunft bezeichnet, während wir auf einer andern Linie direkt nach Buffalo befördert wurden. Ein Herr vom Empfangskomité, der anwesend war, erzählte uns nun zu meinem Leidwesen, daß die übrigen Herren desselben sich alle nach Suspension Bridge, welches 18 Meilen entfernt lag, begeben hätten, um mich daselbst zu erwarten; er freue sich, daß seine Behauptung, wir müßten auf alle Fälle in Buffalo ankommen, die richtige sei. Unser Herr Kiekebusch, ein Landsmann aus Berlin, beförderte uns sofort nach Grüner’s Hôtel, in welchem unsere Zimmer bereits bestellt waren. Nach einigen Stunden, als wir in heiterer Stimmung noch bei Tisch saßen, erschienen die anderen Herren, zurückgekehrt von ihrer Irrfahrt, und hatten sehr rasch ihre trübe Laune vergessen. In zweien derselben lernte ich recht liebe Kollegen kennen, den Herrn Gelbcke, einen gemüthlichen Sachsen vom reinsten Wasser, Dirigent des „Orpheus“, und Herrn Mischka, einen geborenen Böhmen, Dirigent der „Liedertafel“.

Zufälliger Weise war an diesem Tage der Beethoven-Männerchor aus New-York von einer Vergnügungsfahrt nach den Niagarafällen in Buffalo eingetroffen, und ihm zu Ehren wurde am

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verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1887, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_847.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2023)