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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Ein Hochverrathsproceß in Kanada.

Seit den Tagen Karl’s II. von England gehörte die heutige kanadische Provinz Manitoba der englischen Hudsons-Bai-Gesellschaft eigenthümlich, die in dem weiten Gebiet ihr Handelsmonopol zur großen Bedrückung der Eingeborenen handhabte. Jeder Handel mit der Jagdbeute dieser Jägervölker, dem kostbaren Pelzwerk, jeder Kauf und Eintausch ihrer eigenen Bedürfnisse durfte nur mit den Beamten der Kompagnie geschlossen werden. Natürlich wurden die Armen dabei gründlich geprellt. Die Auflehnung gegen diese Satzungen, insbesondere der Handel über die Grenze, war ein Verbrechen. Da geschah es im Jahre 1849, daß ein Mestize, Namens Riel, sich gegen diese seltsame Strafrechtspflege zu Gunsten eines Stammesgenossen mit bewaffneter Hand auflehnte, diesen sammt seinem konfiscirten Pelzwerk befreite und von da ab die Freiheit des Handels der Mestizen mit den Vereinigten Staaten durchsetzte. Sein Name ist daher noch heute den französischen Mestizen Nordwest-Kanadas unvergessen; denn die Wellen der Zeit fluthen langsamer durch diese entlegenen Vorländer der Kultur, als durch die Mittelpunkte modernen Lebens.

Sein ältester Sohn Louis Riel, der im Jahre 1844 in Manitoba geboren wurde, sollte erfahren, daß ererbte Grundsätze zugleich der köstlichste und verantwortlichste Besitz einer Familie sind. Seine Erhebung gegen England und der gegen ihn geführte Hochverratsproceß beschäftigten noch vor Kurzem die öffentliche Meinung. Jetzt, da sich die Leidenschaften der Parteigänger abgekühlt haben, ist es möglich, auf Grund der Proceßakten ein objektives Urtheil über diese immerhin eigenartige Erscheinung zu fällen.

Die allgemeine Beliebtheit des Vaters regte von früh auf das hochfliegende Streben des Sohnes an und richtete zugleich die Augen bedeutender Männer auf seine Gaben. Der Bischof Alexander Taché gewann eine vornehme französische Kanadierin, die Mutter des heutigen Gouverneurs der Provinz Quebec, für seinen jungen Schützling. Aus den gemeinsamen Mitteln Beider ward die Erziehung und der Unterhalt Louis Riel’s auf dem Collége von Montreal bestritten. Hier traf den fleißigen und begabten Zögling im Alter von zwanzig Jahren, 1864, die Trauerbotschaft vom Tode des Vaters. Es galt nun, die Studien abzukürzen, um der Mutter und den sieben jüngeren Geschwistern beizustehen. 1866 war Louis Riel wieder bei den Seinen.

Im Jahre 1869 verkaufte die Hudsons-Bai-Gesellschaft ihr von Jahr zu Jahr weniger einträgliches Besitzthum an die Krone England für 300 000 Pfund Sterling. Die Einwohnerschaft des verkauften Landes hatte sich seit nahezu zwanzig Jahren einer fast schrankenlosen Freiheit erfreut; sie war nicht geschichtskundig genug, um zu wissen, daß auch die verhaßte Hudsons-Bai-Kompagnie ihren Handelsstaat allezeit unter britischer Oberhoheit geführt hatte. Vielmehr hielt das Naturvolk eben jetzt den Zeitpunkt seiner Lossagung von jeder Erdenmacht gekommen. Als der Gouverneur und Bevollmächtigte der kanadischen Regierung von dem erkauften Lande Besitz ergreifen wollte, geboten ihm an der Schwelle der neuen Provinz bewaffnete Mestizen eben so höflich wie bestimmt die Umkehr. Und er kehrte um. Louis Riel ward dagegen einstimmig zum Haupt der provisorischen Regierung Manitobas gewählt. Er zählte jetzt fünfundzwanzig Jahre.

Derselbe hohe katholische Geistliche, der Louis Riel hatte erziehen helfen, Bischof Taché, bot sich in diesem Augenblicke, da der Bürgerkrieg unvermeidlich schien, zum friedlichen Vermittler zwischen der Regierung zu Ottawa und dem bewaffneten Volke von Manitoba an. Die Krone Englands gewährte volle Amnestie, reiche und fruchtbare Landstrecken (240 Acker für den Kopf) an die Aufständischen und sechs Parlamentssitze im kanadischen Parlament an die Provinz. Darauf legten die Halbwilden ihre Waffen nieder; die provisorische Regierung ging aus einander; insbesondere Riel nahm den Pflug wieder zur Hand.

Mittels Urtheils des Gerichtshofs (der Queen’s Bench) von Winnipeg, datirt vom 15. Oktober 1872, soll jedoch Riel – aus welchem Grunde, wissen wir nicht – für „outlaw“ (vogelfrei) erklärt worden sein und will von nun an das Leben eines gehetzten Wildes geführt haben. Daß ein Urtheil dieser Art bestanden hat, beweist eine bedingte Amnestie gegen Riel und Lépine, der neben Riel im Aufstande von 1869 auf 1870 Anführer war, datirt vom 12. Februar 1875. Dieser Gnadenakt gewährte Beiden Verzeihung, wenn sie auf fünf Jahre Manitoba verließen. Beide Geächtete gingen darauf ein, gegen eine Geldentschädigung, die Bischof Taché vermittelte und auszahlte. Die Angaben über die Höhe derselben schwanken. Die amtliche Angabe ist, daß Riel allein 5000 Dollars (etwa 21 000 Mark) erhalten habe. Er selbst behauptet, auf ihn und Lépine seien nur je 400 Napoleons (etwa 6500 Mark) gefallen.

Riel lebte nun eine Zeit lang in der Provinz Quebec in Kanada. Nach einem längeren zwecklosen Wanderleben in den Vereinigten Staaten nimmt er 1879 in Montana eine Lehrerstelle an einer Gewerbeschule an und verweilt hier bis zum Juni 1884, allgemein geschätzt und geliebt und zurückgezogen von allem politischen Treiben. Er heirathet die Tochter eines französischen Mestizen aus der Gegend des Forts Elliot und wird Vater zweier Kinder.

Der Juni 1884 bringt die verhängnißvolle Wendung seines Lebens.

Während seiner langen Abwesenheit von seiner Heimath haben sich nämlich die Verhältnisse seiner Stammesgenossen wesentlich verschlechtert. Die Mestizen sind Halbwilde, fast so leichtlebig und unüberlegt wie Indianer. Gewissenlose Güterspekulanten sind nach 1870 zu Hunderten nach Manitoba geströmt und haben die armen Mestizen mit Gold geblendet und um einen Spottpreis ihr Land ihnen abgekauft. Nun wandern die Heimathlosen zu Tausenden nach dem damals kaum besiedelten Flußthal des Saskatchewan. Aber als es mit der kanadischen Pacificbahn Ernst wurde, strömten auch dorthin Hunderte findiger Einwanderer, mit förmlichen Besitztiteln der englischen Behörden versehen, und vertrieben auch dort die Mestizen vom kaum gegründeten Heim. Keine der zahlreichen, gegen diese Mißstände gerichteten Beschwerden, welche zu Gunsten der Mestizen von Landagenten und Parlamentsabgeordneten, vom Provinzialrath und vor Allem von hochgestellten Geistlichen ausgingen, fand bis zum Juni 1884 befriedigende Antwort.

Da machte sich im nämlichen Monat der Führer der Mestizen in Manitoba seit Riel’s Abwesenheit, Gabriel Dumont, ein leidenschaftlicher, zum Aeußersten entschlossener Mann, mit einigen Gesinnungsgenossen zu Louis Riel nach Montana auf, um diesen zurückzuholen. In glühenden Worten und mit düsterer Entschlossenheit schilderte Dumont die Nothlage der Stammesgenossen, die Nothwendigkeit der Führerschaft Riel’s. Alle guten und bösen Leidenschaften Riel’s verstand er aufzuregen. Nach einigem Zaudern folgte Riel dem, was er für Stimme der Pflicht hielt. Am 1. Juli war er mit seiner jungen Familie wieder in der Heimath und nahm hier die Gastfreundschaft seines Vetters Charles Nolin bis Ende Oktober an. Dann zog er mit den Seinen in ein eigenes Haus, das ihm der tapfere Gesinnungsgenosse Moses Ouelette geschenkt hatte.

Während dieser vier Monate ist seine ganze unablässige Thätigkeit nur auf die Erforschung des gegenwärtigen Zustandes seiner Heimath, der Lage seiner Volksgenossen und auf die gesetzliche Abstellung ihrer gegründeten Beschwerden gerichtet. Er hält eine große Zahl von Versammlungen überall ab, verfaßt, bespricht und versendet die Klagen und Bitten um Abhilfe. Durch zweimalige Sammlung sorgen die Freunde inzwischen für seinen und der Seinen Unterhalt. Er gewinnt die Ueberzeugung, daß jahrelange kräftige Agitation den Beschwerden der Stammesgenossen völlige Abhilfe verschaffen werde. Zwei wichtige Zugeständnisse, die Ertheilung verbriefter Besitztitel (Scrips) und eine neue Landvermessung, erreicht er schon durch seine unermüdliche Agitation. Er denkt nicht entfernt an gewaltsame Erhebung. Noch im Januar 1885 – zwei Monate vor seiner bewaffneten Empörung – bringt er bei einem festlichen Abendessen den Toast des treuen Unterthanen auf die Gesundheit „de notre Souveraine Dame la Reine Victoria“ aus. Alle seine Ansprachen vor Hunderten und Tausenden zielen nur auf „konstitutionelle Agitation“, auf unermüdliche Handhabung des Beschwerderechts.

Was führte nun Louis Riel aus so untadeliger, bewunderungswürdiger Haltung plötzlich zu bewaffneter Empörung?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_812.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2023)