Seite:Die Gartenlaube (1887) 478.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

wo die Eisfelder des Morteratsch und Roseg ihren Fächer über die grüne Thalsohle breiten, da liegt das Engadin und an seiner vornehmsten Höhe St Moritz!“

Und der Weg dahin? Eine überflüssige Frage heute, wo Eisenbahn und Post für uns denken und, wie nach Rom, auch in das Engadin gar viele Wege führen. Das Engadin liegt so ziemlich in dem Mittelpunkte Europas und steht mit den umliegenden Ländern durch seine Gebirgspässe und die dieselben überschreitenden, trefflich chausssirten Poststraßen in Verbindung. Sieben prachtvolle Alpenstraßen sind nach und nach entstanden, und wo die Eisenbahn, von Nord, Ost, Süd und West her, hält, wartet die treffliche eidgenössische Post auf den Reisenden, und die genußreiche Fahrt über den Maloja oder über den Albula, den Julier, den Flüela beginnt.

Die genußreiche Fahrt!

Gar mächtig ergreift es unsere Seele, wenn wir, am besten in einer milden Sommernacht, von Chur, der Hauptstadt des Kantons Graubünden, im Postwagen aufgebrochen, an Churwalden vorbei, über die Lenzer Heide und Tiefenkasten, höher und höher hinauf, in immer ödere und wildere Felsenlandschaften hinein, wo die Vegetation nur noch Vertreter in den reizenden Alpenblumen findet, endlich die Paßhöhe des geheimnißvollen Juliers erreichen. Hier erzählen zwei Säulen alte Märchen: von Julius Cäsar oder dem keltischen Sonnengotte Jul, dem in dieser feierlich erhabenen Einöde geopfert wurde. Hier sehen wir beim eiligen Abfall der Strasse nach Silvaplana, bald begrüßt von grünenden Lärchenbäumen, die silberglänzenden Häupter des Oberengadiner Alpenlandes, eines nach dem andern auftauchen, alle in dem reinen schimmernden Gewande ihrer Schneefelder und Gletscher, gesäumt von der breiten Zone ihrer frischgrünen Wälder – und dann blitzt es empor in dem Glanze des Smaragdes: ein See, der von Silvaplana, dann der von Sils, der St. Moritzer; das freundliche Thal thut sich auf, der strömende Inn glitzert und flimmert zwischen den lachenden Ortschaften; die gastlichen Engadiner Häuser, die Kirchen und Hôtels grüßen herauf, und über das Ganze spannt sich ein tiefblauer Himmel, so rein und frisch, daß er mit keinem andern als dem süditalienischen sich vergleichen läßt. Eine entzückende, nach frischem Gras und Nadelholz duftende Luft, kühlend, erquickend und weich zugleich, weht uns an, wir athmen tief und freudig, und unsere Seele füllt sich mit Luft.

Das ist das Engadin aus der Vogelschau.

Villa Planta in St. Moritz.
Nach einer Photographie von R. Guler, Zürich und St. Moritz.

Der Inn, der nördlich vom Malojapaß, am Fuße des Septimers entspringt und von da, aus einer Höhe von gegen 5800 Fuß, bis zur Martinsbruck ungefähr 2500 Fuß Fall hat, durchströmt das Engadin in seiner ganzen Länge, und von ihm wird der alte Name als „Innoberland“ gedeutet: „en co d’Oen“, „in capite Oeni“.

Ueberall in Engadin ist gut wohnen, überall finden wir das unübertroffene Höhenklima, das so unendlich stärkend und belebend auf den Organismus einwirkt. Wir aber setzen uns mit tausend Anderen in St. Moritz-Bad fest, wo die Königin aller Quellen fließt, der das Engadin seinen so bedeutenden Weltruf fast einzig verdankt.

Schon Theophrastus Paracelsus schrieb um 1530 über dies St. Moritzer Wasser: „Ein Acetosum fontale, das ich für alle, so inn Europa erfaren hab, preiß, ist im Engadin zu St. Mauritz; derselbige lauft im Augusto am sauristen; der desselbigen Tranckes trincket, wie einer Artznei gebürt, der kann von Gesundheit sagen.“

Den Quellen zu Ehren, zu Ehren ihrer aus aller Welt zusammenströmenden Gäste haben die Hüter der Quellen, die rührigen Engadiner, um jene her einen Bade-Ort entstehen lassen, der an vornehmen, modern komfortablen Einrichtungen allen, auch den höchsten und verwöhntesten Ansprüchen gerecht wird.

Nicht an allen Kurorten ist, beispielsweise, die Hôtelfrage so trefflich und genügend erledigt, wie in St. Moritz. Allen Abstufungen ist in Bezug auf Lage und Ausstattung in den Hôtels Kurhaus St. Moritz, Hôtel Viktoria, Hôtel du Lac, Hof St. Moritz, Hôtel Engadin, Hôtel Bellevue u. A. Rechnung getragen.

Das Kurhaus ist der älteste Bau, jedoch nur in seiner mit den Quellen und Bädern in gleicher Front liegenden zweiflügeligen Anlage; an diese schließt im rechten Winkel sich der vornehme und schöne Neubau an, der seine Fronten nach Ost und West kehrt, während ein Mittelflügel den großartigen Speisesaal enthält. Von jedem Zimmer des alten wie neuen Gebäudes aus kann man durch gedeckte Gänge zu den Bädern und Trinkhallen gelangen, und auch an sonstigen Bequemlichkeiten repräsentirt das Kurhaus eine kleine komfortable Stadt für sich. Der Gast findet den Arzt im Hause, freundliche Konversations- und Damensalons, einen Koncertsaal, Restaurationssäle, 18 Privatsalons mit Balkonen, 219 Logirzimmer mit über 300 Betten, Post und Telegraph, Bankkomptoir, Bazars, Koiffeur, eine eigene Musikkapelle, Stallungen, Remisen für Privatequipagen; ferner Badekabinen, Douchen, Milchkurstube, zu Ausflügen in die prächtigen Umgebungen stehen jederzeit Equipagen, Reitthiere, Führer und Träger bereit. Dieser gewaltige Apparat aber wird von dem „Maschinenmeister“ in vorzüglicher Weise dirigirt; er funktionirt vollständig geräuschlos. Dieser nicht zu unterschätzende Vorzug ist, neben trefflichster Küche, sämmtlichen St. Moritzer Hôtels nachzurühmen, auch nach dieser Seite hin ist für unsere Nerven gesorgt.

Wer zuerst an diesen Quellen sich Gesundheit getrunken, Niemand weiß es zu künden, selbst die Sage nicht. Das Dorf „San Murezzan“, wie es im Romanischen heißt, bestand aber schon im 11. Jahrhundert. Im 15. Jahrhundert spielte es nur eine Rolle als Wallfahrtsort, und die Quellen flossen noch ungefaßt und unbenützt dem See zu. Die älteste Fassung stammt vielleicht aus der Zeil des dieser Wasser in preislicher Rede gedenkenden Paracelsus. Erst im 17. Jahrhundert ward ein

Schutzdächlein über der Quelle errichtet, denn viele Schweizer und Italiener kamen jetzt, um sie zu benutzen. Dann gerieth sie in Vergessenheit. Das war zur Zeit der französischen Revolution und der darauffolgenden politischen Wirren, und die Blüthe, zu welcher der Ort bis 1780 gelangt war, welkte rasch dahin. Am Orte, wo wir heute jene Prachthôtels und reizenden Villen sehen, gab es nichts als eine stallartige baufällige Hütte. Eine Beschreibung des „Kurortes“ vom Jahre 1819 erwähnt drei Wirthshäuser: „den Löwen, dessen Wirth als Schlächter seine Gäste täglich mit

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_478.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2023)