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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Da gellte von der rothen Stube her ein Schrei – Melitta’s Stimme. Lolo fuhr von der Schulter des Vaters empor.

„Es ist – es ist – noch Jemand – dagewesen – heute Morgen –“ stotterte der Vater. „Lieutenant Eff hielt um die Hand Deiner Schwester an.“

„Ah –!“ Diesmal leuchtete Lolo’s Gesicht in herzlicher Freude.

„Aber wir sind uns Beide darüber klar geworden,“ fuhr er fort, mit den Fingern sehr aufmerksam den Pelzbesatz ihres Aermels streichelnd, „wir sind uns darüber klar geworden,“ wiederholte er gedehnt, „daß aus dieser Verlobung einstweilen nichts werden kann.“

„O, warum denn nicht?“ fuhr sie zurück.

„Siehst Du, wir wollen Euch doch nicht Beide zugleich verlieren, und Du bist die Aeltere, Du hast den Vorrang –“

Mit einer schnellen Bewegung warf sie das Köpfchen empor. Nur auf die Dauer weniger Herzschläge flogen die Gedanken an ihr vorüber. „Wenn es nur Eine von uns Beiden sein soll, so ist es doch an mir, zurückzutreten! Melitta liebt, und ich liebe (sie wollte nicht sofort ‚nicht‘ sagen) – nein, ich weiß nicht, ob ich ihn jemals lieben werde. Aber Melitta’s Liebe hat den Vorrang. Muß ich da nicht zurücktreten?“

Plötzlich lohte wieder das gewaltig Glänzende vor ihren Augen, in ihren Händen zuckte wieder das Kindergelüsten – sie war zu sehr die Tochter von Frau Belzig, als daß diese Hände an sich gehalten und nicht mit dem raschen Griff gieriger Kinder das prächtige Spielzeug an sich gerissen.

Eine Grafenkrone – Gott, wie viele sonst verständige Leute rutschen vor solchem Fetisch auf den Knieen, wie mancher würde in solchem Götzendienst sein halbes Vermögen, seinen ganzen Charakter opfern, bloß um solch ein Ding zu besitzen. Wie unwiderstehlich nimmt sich solch Neungezacktes auf einer Visitenkarte aus – wie berauschend wirkt es auf dem dunkelblauen Lack eines Wagenschlages oder auf den thalergroßen Knöpfen eines Livréebedienten – und welch reizende, süßbestrickende Musik: „Frau Gräfin – gnädigste Gräfin –“ nein, man kann es einem Kinde wie Dir, Lolo, nicht verargen, wenn Du die Fingerchen danach ausstreckst!

Die Eltern wünschten es ja auch, und Lolo hatte oft sagen hören, daß Ehen, die ohne brennende Leidenschaft geschlossen würden, eigentlich am besten ausfielen. Es sprach ja für diese Verlobung Vieles. Nur hier, vor dem lauten, rückhaltlosen Jammer Melitta’s, kam ein Gefühl von Scham über sie.

Sie kann nicht – glücklich sein (wie soll sie es sonst nennen?), wenn dieses – Glück ihre Schwester fort und fort an den Schmerz eines Verlustes erinnern soll! Sie will ihr – Glück nicht auf Melitta’s Kosten erkaufen! Sie stutzte. Ist die Gleichzeitigkeit der beiden Heirathsanträge, die dem Hause die beiden einzigen Kinder zugleich entführt, wirklich der Grund, weßwegen Eff abgewiesen und der Graf angenommen wird? Ei, warum ist sie nicht sofort darauf gekommen? Sie hat doch sonst schon genug von dem Ritus und den Satzungen des Götzendienstes kennen gelernt. Nicht die Personen, nein, die Namen – der Kontrast der beiden Namen! Wäre Eff früher, vielleicht auch später erschienen, so hätte man ihn nicht verschmäht. Armer Eff, der über seinen eigenen Namen stolpern muß – bedauernswerthe Schwester, die das Verhängniß gehabt, ihr Herz an einen „Namenlosen“ zu verschenken!

Lolo schritt die Stube auf und ab, die großen sinnenden Augen auf die Arabesken des Teppichs gesenkt; von Melitta’s Lager her kam ein gedämpftes Stöhnen. Plötzlich hielt sie dicht unter der Hängelampe, deren gelblich mattes Licht ihre Gestalt magisch übergoß. Ihre Augen funkelten, und sie waren mit einem fast drohenden Ausdruck auf ein Ecktischchen gerichtet, auf dem eine große Photographie in einem gestickten Plüschrahmen stand – das Bild ihrer Mutter als Kniestück, ganz Würde und Wichtigkeit und Grandezza, ganz die geborene „von“ Schülpchen, mit einem gnädigen und herablassenden Lächeln.

Nur wenige Sekunden lang währte die stumme Herauforderung dieses Blickes. Dann wandte sich Lolo nach dem Bett.

„Litta! – Komm – sei ruhig!“

Diesmal war es mehr als eine tröstende Beruhigung. Litta hob das Gesicht aus den Kissen, und ihre gerötheten, von Thränen entstellten Augen starrten fragend zu der Schwester empor.

„Nun ja, Litta, Du sollst sehen! Es wird Alles gut! Du sollst Deinen Eff haben, oder – Mama soll ihren Grafen –“

Wie lächerlich, wie absurd es klingt. „Mama soll ihren Grafen nicht haben.“ Lolo’s Zähnchen blinkten; sie mußte selbst lächeln über solche Fassung ihrer Kriegserklärung. Gleich aber verschwand das Lächeln wieder unter dem triumphirenden Gefunkel ihrer Blicke.

„Wo willst Du hin, Lo?“

„Laß mich nur machen!“ rief diese von der Thür her. „Daß Du mir keine Thräne mehr weinst, das sag’ ich Dir, Litta!“

Wenige Minuten später stand Lolo im Allerheiligsten des Komptoirs vor dem Vater. Sie war, ohne anzuklopfen, hereingetreten. Herr Belzig war so in Gedanken versunken, daß er das Oeffnen der Thür gar nicht gehört zu haben schien. Er saß auf dem sesselartigen Drehschemel, die Stirn, wie von einer wüsten Schwere bedrückt, in die stützende Hand gepreßt. Vor ihm auf dem Pulte lagen, von der Lampe grell beschienen, bunte, mit schreienden Farben bemalte Bilderbogen, Offerten, die der Erledigung harrten; gegen das große schwarze Tintenfaß, gegen den eisernen Leuchter und die Briefwage lehnten ausgeschnittene Figuren aus einem Puppenspiel, und die Possierlichkeit dieser Umgebung wollte nicht zu den Falten auf der Stirn des Mannes und zu dem starren Sorgenausdruck seiner Augen passen.

„Papa …“

Er schrak aus seinen Gedanken empor.

„Ah, Du bist es, Lo? Wie kommst Du … was willst Du? …“

Es glitt bei ihrem Anblick ein freundlicherer Schein über sein verstörtes Gesicht.

„Darf ich Dich auf einen Augenblick sprechen? Verzeih’, wenn ich Dich störe, Papa.“

„Komm nur, mein Kind!“ Er streckte seine trockene, hagere Hand nach ihr aus.

Aber Lolo nahm die Hand nicht. Sie trat einen Schritt näher an das Pult heran, in den Leuchtkreis der Lampe hinein.

„Vater,“ sagte sie im ruhigsten Ton, die Arme mit den zusammengelegten Händen hingen ebenso gelassen herab; „Vater, es thut mir leid, wenn ich mich nicht ganz so folgsam erweise, wie Du und Mama es erwartet. Ich fühle mich wie Ihr sehr geehrt durch den Antrag des Grafen Nachewski (keine Miene der Ironie, doch fiel es ihr schwer, diese Miene zu unterdrücken). Ich kann mich jedoch nicht entschließen, diesem Herrn meine Hand zu reichen.“

„O – o!“ Herr Belzig drehte sich vollends auf seinem Schemel herum. Es lag Allerlei in diesem O: Ueberraschung, Verwunderung, Angst vor einer neuen Störung des häuslichen Friedens, aber auch eine Spur von Schadenfreude, daß die Autorität seines Weibes so wider Erwarten auf Widerstand stieß.

„Wenn ich überhaupt dabei mitzureden habe,“ ergänzte Lolo, die Stimme erhebend.

„O!“ ein kürzeres O, das ihr diese Berechtigung sofort und freudigst zugestand.

„Das heißt, lieber Vater, ich mache meine Entschließung von einer Bedingung abhängig. Litta liebt Eff und Eff liebt Litta. Warum sollen sie sich nicht gehören? Und wenn sie sich nicht gehören sollen – so – (sie riß die zusammengelegten Hände mit einem Ruck aus einander und ihre Stimme bebte) so bin ich schlecht, so verzeiht mir, wenn ich nicht Eure gehorsame Tochter bin, so nehme ich auch nicht Euren Grafen (sie rief es gerade heraus, dies ‚Euer‘)! Niemand in der Welt wird mich zwingen, ihn zu heirathen!“

Belzig’s Augen zeigten ein verblüfftes Staunen. „Mein Kind, mein gutes Kind …“ stammelte er, und er begann langsam, die Ellenbogen im rechten Winkel, sich zu erheben. Da war aber auch schon Lolo auf ihn zugestürzt und hatte ihn mit ihren umschlingenden Armen wieder auf den Sitz zurückgezogen.

„Lieber, lieber Papa, sei mir nicht bös! Ich wollte Dir ja keinen Kummer machen. Ich weiß ja, daß Dir die Aufregung schadet. Aber Mama war ausgefahren, und ich konnte nicht länger an mich halten. Es mußte heraus. Es ist mein Ernst, es ist mein heiliger Ernst!“ Sie richtete sich wieder empor, aber diesmal beschränkte sich der Ausdruck des Trotzes nur auf diese Bewegung, in ihren Augen war ein feuchter Schimmer: „Wenn Du wüßtest, wie unglücklich die arme Melitta ist, Papa!“

„Nun ja, nun ja,“ beruhigte er ausweichend, „es wird sich Alles machen! Man muß mit Mama reden – ich werde mit Mama reden –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_274.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2023)