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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Dann schloß sie leise wieder die Thür.

Heino fuhr auf. O, diese ewigen prosaischen Unterbrechungen! Sie waren schuld, daß er nicht dazu kam, seine Gedanken zu sammeln.

Er warf die goldene Schwanenfeder weg, griff nach Hut und Handschuhen und stürmte hinaus.

„Wo willst Du hin? Du wirst den Sonnenstich bekommen,“ warnte seine Mutter, aus ihrer Stube heraussehend.

„Ins Freie, in die Einsamkeit,“ stöhnte er und verschwand.

Die Einsamkeit, die er suchte, konnte gar nicht tief genug sein. Die jetzt so stillen Anlagen, welche das Kurhaus umgaben, genügten ihm noch nicht. Rasch durcheilte er sie und mäßigte erst seinen Schritt, als er den Garten betrat, der für die jeweiligen Bewohner des Lora-Flügels vorbehalten war.

Unter einer Gruppe von blühenden Oleanderbäumen stand Vera neben einem Käfig, in welchem ein grauer Papagei kletterte und kreischte.

„Ist Deine Mama hier?“ fragte Heino.

„Nein, Mama liegt auf ihrer Ottomane und raucht!“ antwortete Vera.

„Wo ist Mademoiselle?“

„Sie läßt sich von Kathinka die grauen Haare ausziehen.“

„Was thust Du hier?“

„Ich unterrichte Jacques.“

„Worin?“

„Fräulein Leonore hat ihm aufgegeben, ‚Heino‘ sagen zu lernen, und ich helfe ihm. Nun, Jacques! Sprich: Heino.“

„Paschol!“ schnarrte der Vogel.

„Sage sogleich: Heino.“

„Geh zum Teufel!“ schimpfte Jacques, indem er sich an den Beinen aufhing.

„Willst Du die Peitsche haben?“

Andate via,“ schrie der Papagei und hackte mit seinem krummen Schnabel nach Vera.

Heino hatte sich von seinem freudigen Schrecken erholt und wieder Athem zum Lachen gefunden.

„Er ist ein echter Russe; in aller Herren Ländern zu Hause, kennt er sogar das Zauberwort, welches den geplagten Reisenden in Italien von allen zudringlichen Führern und Trägern befreit, wenn er in höchsten Nöthen ist. Aber nun sage, wo ist Fräulein Paloty?“

„Sie liegt drüben im Grase und schläft,“ gab Vera zur Antwort.

„Im Grase?“ fragte Heino erstaunt.

Vera nickte.

„Sie sagt, die reichen Leute wüßten es nur nicht, wie viel besser es sich manchmal hinter einem Zaun als in einem Himmelbett schlafe. Ich habe sie gewarnt, daß ihr ein Wurm ins Ohr kriechen würde; aber sie lachte und meinte, dem entginge zuletzt Niemand. Wollen Sie sie sehen? Aber Sie müssen ganz still sein, sonst wacht sie auf.“

In ihren kleinen, aus buntem Leder zusammengesetzten Stiefelchen ging sie voraus durch die Weingänge nach dem großen Rasenplatz, der sich zu dem Lora-Ufer hinabzog. Das gemähte Gras füllte die Luft mit süßem Heuduft.

Im Schatten einer Trauerweide, die ihre Zweige in die Wellen tauchte, ruhte Leonore, das rosige Gesicht an einen Heuschober geschmiegt, und schlief so behaglich, als habe sie nie eine andere Schlummerstätte gekannt. Sie schien wie verwebt und verwachsen mit der stillen Natur um sie herum. Das Lied der Feldgrillen umschwirrte sie; Marienkäferchen krochen dreist in dem langen goldenen Haargeringel, das bis auf den Rasenteppich herab fluthete.

Zu ihren Füßen wand sich die Lora dahin. Gleich Schuppen eines gleißenden Schlangenleibes schoben sich ihre Wellen glitzernd fort. Leises Murmeln entstieg ihnen, als singe eine unterirdische Stimme ein uraltes Wiegenlied. Zuweilen rauschte eine stärkere Welle heran, reichte wie ein ausgestreckter Arm hinauf bis an den Saum des weißen Kleides, ihn leicht netzend.

Heino war ganz hingerissen von dem schönen Bilde.

„Vera,“ sagte er leise, ohne den Blick von der schönen Schläferin abzuwenden, „willst Du mir etwas zu Liebe thun?“

Das Kind richtete die hellbraunen Augen fragend auf ihn.

„Wie macht man das?“ wisperte sie.

„Willst Du hingehen und mit einer Schere eine Locke aus Fräulein Leonorens Haar für mich schneiden?“ flüsterte er in das kleine mit einem Malachitglöckchen geschmückte Ohr.

Vera sah ihn eine Weile stumm und dreist an.

„Nein,“ antwortete sie dann, „das würde Fräulein Leonore nicht gestatten. Sie ist sehr stolz auf ihre schönen Haare.“

„Sie soll es auch nicht erfahren,“ entgegnete Heino beruhigend; „ich sage ihr kein Sterbenswörtchen, und außer uns sieht es Niemand.“

Vera legte ihre Hände auf den Rücken, zum Zeichen, daß sie ihm dieselben nicht zu der Unthat leihen wolle.

„Nur eine ganz kleine Locke,“ drängte er weiter. „Ich will Dir auch etwas Wunderschönes schenken.“

„Was denn?“ fragte sie neugierig.

„Willst Du Bonbons und Marzipan aus Himmelgarten?“ raunte Heino ihr zu.

Sie schüttelte den kleinen Kopf mit dem kurz geschnittenen dunklen Haar.

„Davon bekommt man schwarze Zähne.“

„Eine Puppe, die Papa und Mama sagen kann?“ bot er weiter.

„Ich spiele nicht gern mit Puppen,“ sprach sie wegwerfend.

„Nun, was möchtest Du wohl haben?“ drang er leise in sie.

Vera rückte unschlüssig ihren juchtenledernen Gürtel über der naturellfarbigen Blouse hin und her. Endlich stellte sie ihre Bedingung.

„Wenn Sie mir ein Gedicht machen wollen.“

„Wie kommst Du auf diese Idee?“ fragte Heino überrascht.

„Die Komtesse Schwuggensee wünscht sich ein Gedicht,“ vertraute ihm Vera an, „und die Fräulein von Gokel möchten es auch; und Mister Montagu wird so lange hier bleiben, bis er für sein Album von grünem Sammet ein Gedicht von Ihnen hat. Denn er sagt: Baron Blachrieth ‚is in vogue‘. Dann hätte ich etwas, was noch Niemand weiter hat.“

„Du sollst ein Gedichtchen bekommen,“ versprach Heino.

Vera sprang nach dem Salon und kam bald mit einer kleinen vergoldeten Schere wieder. Aber sie war noch nicht gänzlich ohne Bedenken.

„Warum schneiden Sie sich denn die Locke nicht selbst ab?“ fragte sie ihn mißtrauisch.

Heino erröthcte heiß.

„Weil ich keine solchen Elfenfüßchen habe, unter denen das Gras nicht knistert, und weil Du dann kein Gedicht bekommst.“

Der letzte Grund schlug durch. Leise schlich sie zu Leonoren hin, und mit ihrer kleinen ungeschickten Hand schnitt sie eine lange Locke ab, die still auf den Boden sank. Schnell hob sie dieselbe auf und brachte sie Heino, der zitternd das duftende seidenweiche Haar empfing und es eilig auf seiner Brust verbarg.

Dann versprach er, ihr recht bald den Sündenlohn zu zahlen, prägte ihr ernstlich ein, Niemand etwas von dem verübten Raub zu sagen, warf noch einen heißen Blick nach der schönen Schläferin zurück und eilte von dannen.

In seiner Aufregung hatte er die ganze Welt vergessen und fuhr erschrocken zusammen, als er plötzlich bei einer Biegung des Weges einem eleganten, ganz in Grau gekleideten Herrn gegenüber stand.

Auch der Andere war sichtlich überrascht und sah Heino durchdringend an. Doch sogleich senkten sich seine Augenlider wieder, und er schritt langsam vorüber.

Heino aber vermochte nicht, weiter zu gehen. Der Gedanke, der Fremde, in dem er den Pächter der Bank erkannte, könne zufällig an Leonorens so leichtsinnig gewählte Ruhestätte kommen, schnürte ihm die Brust zusammen. Er blieb stehen und folgte dem Grauen mit dem Blicke.

Da, wo der Weg von dem Weinlaubengang nach der Trauerweide sich abzweigte, schien der Spielpächter zu zögern und unmerklich das Gesicht nach ihm zu wenden. Dann drehte er sich rasch ab und wandelte den nach dem Kurgarten führenden Weg hinauf.

Heino athmete auf. Den goldigen Schatz an sein Herz drückend, eilte er nach Hause.

(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_330.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2021)