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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

eine neue Hoffnung auf so einen Blondkopf –. Das nimmt auch kein Mensch übel, Frau Amtsräthin, der König von Preußen nicht und Bismarck nicht und Moltke nicht, beweint müssen sie werden, die braven Jungen und werden es auch, und nicht nur von den Müttern – das ganze Land thut es. Aber die Frau Amtsräthin sollten vorerst die Thränen noch sparen, noch lebt der junge Herr, und so lange ein Athemzug im Menschen ist, soll man die Hoffnung nicht lassen. Leben Sie wohl, Frau Amtsräthin, der Wagen ist draußen."

„Adieu, Müller! Grüßen Sie meinen Fritz. Mein Lebtag will ich’s Ihnen nicht vergessen, daß Sie da hinaus gehen –.“

„O Frau Amtsräthin, das ist bloß meine Schuldigkeit,“ sagte der Mann. „Adieu, Fräulein von Werthern.“

„Adieu, Herr Müller,“ sagte auch ich, „grüßen Sie Ihren jungen Herrn.“

Die alte Frau folgte ihm und ich saß am Fenster, der Lampe den Rücken zugewendet. – Ob er ihn finden wird? dachte ich und hörte auf das verhallende Rollen des Wagens. Ob er ihn finden wird – und wie? Todtwund und mit fieberndem Körper, oder schon – schon nicht mehr unter den Lebenden, wie unser armer Hans? –

Frau Roden kam nicht wieder, und als ich sie suchen ging im ganzen Hause, da fand ich sie endlich in ihres Sohnes Zimmer; auf dem Schreibtisch stand ein Licht, und sie saß auf dem Sofa und hielt einen alten Strohhut von ihm in der Hand. „Er war vom Kleiderständer gefallen, Tone,“ sagte sie leise; und ich that, als ob ich nicht wüßte, daß die kleine Frau ihn erst mühsam hatte herunter langen müssen, um etwas von ihrem Fritz zu haben, an das sie ihre Wange schmiegen konnte.

Und dann fragte sie dasselbe wie ich: „Ob Müller ihn bringen wird?“ Und als ich schwieg, setzte sie jammernd hinzu: „Was soll dann aus uns werden, Tone?“

„Aus uns?“ fragte ich. Wie ein Stich traf dieses „uns“ mein Herz. Aber da rollte schon der Hut vor meine Füße, und die alte Frau hatte mich umfaßt und küßte mich auf die Stirn. „Du weißt nicht, Kind, wie lieb ich Dich habe!“

Und ihre weichen welken Hände umfaßten mein heißes verweintes Gesicht einen Augenblick, dann zog sie mich hinauf und führte mich die Treppe hinauf zu meiner Stubenthür. „Schlafen Sie,“ sagte sie, „es war ein schwerer Tag – Gott wird barmherzig sein!“ Und da stand ich im Dunkeln, und das Herz wollte mir zerspringen, so stürmisch schlug es gegen die Brust.

Was sollte aus uns werden – aus mir? Ach, elender konnte ich nicht sein, wenn er todt, elender nicht als jetzt, denn er würde Lotte nie vergessen, nie! Nein, das dumme Herz klopfte umsonst so hoch empor. Und wenn er heimkehrte, würde ich gehen – wohin? Irgend wohin, die Welt ist groß, und hilfreiche Hände werden überall gebraucht. „Ich will in einem Lazareth Verwundete pflegen,“ sagte ich, als meine Augen schlaflos ins Dunkle starrten.




Tage und Tage waren vergangen. In dem sonnigen Zimmer, das neben Frau Rodens Schlafstube lag, stand ein schneeweißes Bette; wollene Gardinen waren aufgesteckt, damit auch am Tage Dunkelheit geschafft werden konnte, wenn müde heiße Augen sich schließen wollten; ein zweckmäßiger Krankenstuhl harrte am Fenster seiner Bestimmung, alles was sich irgend zur Bequemlichkeit des Verwundeten eignete, war in dem freundlichen Raume beisammen, nur er, dem diese Vorbereitungen galten, war nicht heimgekehrt.

Recht spärlich waren bis jetzt die Nachrichten von Müller eingetroffen, nur langsam kam er vorwärts, die Eisenbahnen fand er zerstört, Fuhrwerk kaum zu haben, und eine Spur des Gesuchten war bis jetzt nicht zu ermitteln gewesen. Man hatte die zahllosen Verwundeten in die verschiedensten Orte vertheilt. – Und nun die Zeitungsnachrichten mit immer neuen Berichten dieser blutigen Tage; war es ein Wunder, wenn der Muth tiefer und tiefer sank?

Endlich stand auch sein Name unter den Verwundeten, unter den Schwerverwundeten. „Herr Gott, und ich bin nicht bei ihm!“ stöhnte die alte Frau; „die Einzige, die er noch auf der Welt – und so weit von ihm.“ Und dann fragte sie wieder, ob sie stark genug sei, hinzureisen, um muthlos selbst zu antworten: „Ich käme nicht bis an die Grenze!“

Dann nach vierzehn Tagen eine Karte aus Pont à Mousson: „Ich habe ihn gefunden, es geht auch schon besser; in zwei Wochen, sagt der Arzt, können wir uns vielleicht langsam auf den Heimweg machen. Er ist seit gestern erst wieder bei Besinnung und schwach zum umpusten; er freute sich sehr, mich zu sehen, und grüßt seine Mutter herzlich. Jetzt schläft er, die Frau Amtsräthin können ihn nun nach Herzenslust pflegen, denn für diesen Feldzug hat er wohl genug, und sollte es noch ein Jahr dauern. Ich gebe von nun an regelmäßig Nachricht. Müller.“

Ich war bei Lotte, als die Karte kam: in ihrer Herzensseligkeit schickte Frau Roden sie mir herüber ins Schloß.

Lotte that, als sähe sie nicht, daß mir der Diener etwas überreichte. Sie arbeitete ruhig an dem fürstlichen Wappen, das, auf weißem Atlas in Roth und Gold ausgeführt, eine Schreibmappe zieren sollte, die sie ihrem Prinzen zum Geburtstag schenken würde. Mit glücklichem Lächeln betrachtete sie von Zeit zu Zeit die geschmackvolle Arbeit in einem kleinen Spiegel, der vor ihr auf dem Tische stand. Wir saßen im fürstlichen Garten; es war einer der wundervollen Tage, wie sie nur der September zu bringen vermag, und außerdem hielt noch ein zierliches, roth und weiß gestreiftes Zeltchen jede Zugluft von uns ab. Die Vorhänge waren zurückgenommen, und der Blick schweifte über den üppiggrünen, durch wundervolle alte Bäume geschmückten Garten.

Lotte hatte Briefe und Depeschen bekommen und vom Hofjuwelier im Auftrage Sr. Durchlaucht einen entzückenden Schmuck, der im geöffneten Etui vor ihr stand und dem die Sonnenstrahlen ein verführerisches Blitzen und Leuchten entlockten. Sie war in der allerrosigsten Laune, denn eine Freundin in Berlin, die kleine Else von Reckenthien, mit der sie in neuester Zeit wieder in Korrespondenz getreten war, hatte ihr geschrieben, daß man viel von der Verbindung der schönen Lotte von Werthern mit dem Prinzen Otto spreche, und daß sie, trotz des Krieges, das Gesprächsthema der Berliner Gesellschaft sei. Prinz Otto aber hatte ihr mitgetheilt, daß, sobald der Krieg vorüber – und man hoffe ja, daß in allernächster Zeit Friede werde – sie ihre Hochzeitsreise nachholen würden, und sie möge nur sagen, ob sie zunächst Neapel oder Rom für einen längeren Aufenthalt wählen wolle.

Sie war so in die Wappenstickerei und ihre Zukunftsträume versenkt, daß sie die leise Aeußerung der Freude gar nicht bemerkte, die mir die schlichten Worte der Postkarte entlockten. Die alte Frau hatte dazu geschrieben: „Bleiben Sie nur drüben, Tonchen, denn ich gehe eben zum Herrn Superintendenten und zur Frau Oberförsterin, um ihnen mitzutheilen, daß er lebt.“

Wir sprachen ja nie von Fritz Roden, wozu auch heute? Ich konnte aber nicht dafür, daß meine Hand zitterte, als ich Lotte eine Tasse Kaffee einschenkte, um die sie mich bat, und daß ein Tröpfchen des braunen Trankes auf ihre Hand flog, welche die Stickerei hielt. Sie sah ärgerlich empor: „Aber, Tone, ich bitte Dich! das konnte mir die ganze Arbeit verderben.“

Ich war erschreckt und bat sie um Verzeihung. Aber ihre Miene blieb schmollend.

„Ich möchte wirklich wissen, Tone, was Dich so aufregt?“

„Es war eine freudige Nachricht, Lotte.“

„Von wem hast Du denn Nachricht?“

„Nicht ich, Frau Roden hat sie; Fritz geht es besser. Du weißt wahrscheinlich nicht – er war schwer verwundet.“

Sie hob den Blick und sah mich an; es war aber nichts von Theilnahme darin, es war die reinste Verwunderung, ich mochte wohl hastig und erregt gesprochen haben. Und als sie schwieg, sagte ich: „Da wir einmal bei dem Thema sind, Lotte, ich gehe nach Berlin, wenn Fritz zurückkommt.“

„Warum denn, mein Gott?“ fragte sie, und wieder wollten ihre Augen auf den Grund meiner Seele dringen. Und unter diesem Blick fühlte ich, wie mir das Blut heiß in die Wangen schoß; ohne eine Antwort setzte ich mich und strickte weiter an den groben Socken aus selbstgesponnenem Garn der Domainenschäferei, die für unsere Braven im Felde bestimmt waren.

„Meinetwegen brauchst Du Dein Asyl nicht aufzugeben,“ fuhr sie fort; „was kannst Du dafür, wenn ich diese Verbindung löste? Er ist viel zu gutmüthig und war viel zu sehr verliebt, als daß er es Dir entgelten lassen würde, was die Schwester ihm angethan. Also, Unangenehmes in diesem Sinne hast Du nicht zu riskiren. Oder sind es andere Gründe?“

„Nein!“ sagte ich kühl.

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