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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Er trieb uns in den Flur, wo ein Diener bereits mit unseren Sachen auf uns wartete, um uns eine breite vornehme Treppe hinauf über einen oberen stattlichen, mit großen dunklen Bildern ausgeschmückten Flur durch einen schmalen Korridor in einen Seitenflügel, wie mir schien, zu führen, wo er uns ein schönes, luftiges Gemach öffnete, vor dessen offenen Fenstern hohe Bäume ragten und an das ein zweites kleineres stieß, in welchem unsere Betten standen.

„Ob der junge Herr sonst noch etwas befehle?“

„Ich denke, wir sind hier zwei,“ sagte Schlagododro streng.

„Die jungen Herren,“ verbesserte sich der Diener.

„Sie können in Zukunft auch die ,jungen‘ weglassen,“ sagte Schlagododro. „Merken Sie sich das.“

Der Mann verbeugte sich und verließ das Zimmer, da die „Herren“, wie sich herausstellte, sonst nichts zu befehlen hatten.

„Es ist ein neuer,“ sagte Schlagododro, sich den Rock ausziehend; „man braucht es mit den alten nicht so genau zu nehmen; aber die neuen Kerls maß man gleich von vornherein Mores lehren; hernach ist es zu spät.“

Ich lachte, aber innerlich war mir gar nicht zum Lachen. Durfte man so mit jemand umgehen, der ein Mensch war wie wir? Und war dies mein Freund Schlagododro, der Republikaner, den die Seinen wegen seiner Freidenkerei „auf dem Strich“ hatten: wie mochten dann die Andern sein? wie mochten dann die Andern denken?

Schlagododro hatte glücklicherweise keine Ahnung von meinen geheimen Skrupeln. Während wir uns wuschen und unsere verstaubten Kleider wechselten, pfiff er behaglich oder sang: „Freiheit, die ich meine“ – in möglichst falschen Tönen, um sich plötzlich mit seinem ärgerlich hervorgestoßenen Lieblingswort: den Kerl schlage ich aber doch noch einmal todt! zu unterbrechen. Ich glaubte, die Drohung gelte dem „Neuen“, erfuhr aber, daß Axel von Blewitz gemeint sei, den Schlagododro, der eben am Fenster stand, durch den Garten hatte gehen sehen. Der Kerl, der übrigens eine Art Vetter von ihm sei, sein Gut ganz in der Nachbarschaft habe, auch oft in die Stadt komme, mache neuerdings Ellinor auf eine schauderhafte Weise den Hof und sei dabei ein solcher Esel und kompleter Narr, daß er, wenn je ein Mensch, todtgeschlagen zu werden verdiene. Dagegen glaube er mich auf den Kammerherrn aufmerksam machen zu müssen, früher ebenfalls in der Nachbarschaft begütert, bis er den letzten Heller verspielt und sonst verthan, um dann an einem kleinen mitteldeutschen Hofe Theaterintendant und Kammerherr zu werden, bis er später eine unerwartete Erbschaft machte, von der er jetzt behaglich in Berlin lebe und von Zeit zu Zeit – wie eben jetzt – seine alten Freunde und Nachbarn auf der Insel besuche. Ein famoser alter Bursche, ebenso amüsant, wie der Kerl von Blewitz langweilig, nur ein bischen schlecht auf den Füßen, so daß er ohne seinen Kammerdiener – Weißfisch – übrigens auch ein Original – nicht wohl von der Stelle könne. Es sei nun aber die höchste Zeit, daß auch wir von der Stelle kämen!

Ich war bereit, was den äußeren Menschen betrifft. Innerlich war ich es keineswegs. Es kam mir wie eine grenzenlose Thorheit vor, daß ich diese Einladung angenommen hatte, und selbst der Trost, daß ich Maria nun wieder sehen sollte, wollte nicht recht verfangen. Was hatten wir beide hier zu thun?

„Nun?“ sagte Schlagododro, bereits in der Thür.

„Ich komme,“ erwiderte ich.

Bei mir aber sagte ich: Und morgen gehe ich wieder.


2.

Von einem Diener (nicht dem „Neuen“, sondern einem älteren Manne, der uns mit einer Tablette voll allerhand Dessertgeschirr entgegen kam und von Schlagododro „Braun“ und „Du“ genannt wurde) hatten wir erfahren, daß die Herrschaften auf dem „Freiblick“ seien. Der Freiblick, belehrte mich Schlagododro, war ein Platz im Park, so geheißen, weil man von demselben, da er hart am Ufer liege, vielmehr einen etwas erhöhten Vorsprung des Ufers bilde, einen freien Blick die Bucht hinab und auf die gegenüberliegende Küste habe. Schade, daß die Sonne schon unter sei und wir nur noch einen Rest von dem Abendlicht auf dem Wasser bekommen würden!

Ein Rest von dem Abendlicht dämmerte aber auch noch röthlich in den hohen Parkbäumen, unter denen wir jetzt rasch dahinschritten, immer in der Nähe des Schlosses, das mir schier endlos in seiner Ausdehnung vorkam, ebenso wie der Park sich endlos nach der anderen Seite und vor uns zu strecken schien.

„Es ist nicht so schlimm,“ sagte Schlagododro, „und bis zum ,Freiblick‘ sind es von der Seitenthür, aus der wir gekommen sind, nur genau dreihundert Schritt. Aber wir können hier ein Ende abschneiden.“

Er klinkte ein Pförtchen in einem Drahtgatter auf zu einem Gemüse- und Obstgarten an der langen fensterlosen Rückwand eines Gebäudes, welches allerdings noch mit dem Schlosse zusammenhing, aber bereits zu Wirthschaftszwecken diente. Während mir der Freund das demonstririe, bemerkte ich, dessen verwunderte Blicke umherwanderten, durch das dichte Blätterwerk an Stangen aufwärts rankender Himbeerstauden helle Frauenkleider, auf die ich Schlagododro aufmerksam machte.

Es war nicht eben laut gewesen, aber die Mädchen mußten es doch gehört haben, denn das eine der hellen Kleider flatterte tiefer in die Büsche, hinter denen es verschwand, während das andere, welches das erste vergeblich zu halten versucht zu haben schien, deutlicher durch die Blätter schimmerte und jetzt heraustrat. Es war Maria, und ich athmete erleichtert bei ihrem Anblick auf, wie ein verzagender Schwimmer, wenn er plötzlich Boden unter den Füßen fühlt. Ich ging ihr lebhaft entgegen und murmelte, ihr die Hand pressend, nur ein dumpfes: Gott sei Dank! so leidenschaftlich, daß sie mich verwundert fragte: „Was haben Sie?“

Ich konnte ihr glücklichrweise die Antwort schuldig bleiben, Schlagododro war nun auch herangekommen; ich mußte die Beiden, die sich einander nie gesehen hatten, vorstellen. Der Himmel weiß, wie ungeschickt ich das angefangen haben mochte, denn Schlagododro verbiß sich nur mühsam das Lachen, und selbst in Maria’s Oberlippe zuckte es. So stand ich ärgerlich und beschämt dabei, während sie mit einer Gewandtheit, um die ich sie beneidete, allerhand höfliche Redensarten austauschten, die mir sehr banal und gerade dieser Beiden unwürdig vorkamen. Hatte ich mir doch die Begegnung so ganz anders gedacht; so viel gehaltener auf Maria’s, so viel enthusiastischer auf Schlagododro’s Seite! Denn daß er von Maria einen sehr bedeutenden Eindruck auf der Stelle erhalten und denselben kundgeben müsse, stand bei mir fest als Aequivalent der Verzückung, in die ich nach seiner Voraussetzung gerathen würde, sobald ich Ellinor erblickte. Ich schwor es mir jetzt in meiner gekränkten Seele zu, ich würde nicht in Verzückung gerathen, und wenn sie, die sich da noch immer zwischen den Büschen versteckt hielt, tausendmal schöner als schön sei.

„Ellinor!“ rief Maria,

„Sie wird fort sein,“ sagte Schlagododro.

„Bewahre,“ sagte Maria, – „Ellinor!“

„Hier bin ich!“ rief eine Stimme nach einer kleinen Pause zurück.

Etwas Sonderbares geschah in meiner Seele, das mir noch heute wie ein schauerlich schönes Wunder erscheint.

Es war um uns, die wir nach Maria’s zweitem Rufen lauschend dastanden, eine völlige Stille gewesen – kein leisester Vogellaut in den Bäumen, kein heimlichstes Lispeln in den regungslosen Büschen, – und als nun die Antwort kam, da – ich kann es nicht anders ausdrücken – war es mir, als hätte die Stille selbst – das athemlose Schweigen ringsumher – gesprochen. So voll und weich und geheimnißvoll war der Klang: hier bin ich! – ich, das Geheimniß, das für Dich über diesem Orte, über dieser Stunde ruht!

Und während ich, von solchen Schauern durchbebt, mit weitgeöffneten Augen auf die Büsche starrte, thaten sie sich auseinander, und ein Mädchen trat heraus und kam leichten Schrittes auf uns zu. Wenn sie, statt zu schreiten, auf dem Hauch, der plötzlich über meine brennenden Wangen strich, herangeschwebt wäre – ich würde es zweifellos nur in der Ordnung gefunden haben. Ja, das war sie, die mir Schlagododro geschildert hatte: mit dem Haar, welches röthlich, wie der Abendschein, in herrlichen Locken nach allen Seiten den reizenden Kopf umgab und doch wieder wegstrebte, als zausten an jedem einzelnen unsichtbare Elfenhändchen; mit den braunen, von den langen dunklen Wimpern überschleierten Sammetaugen und dem süßreizenden Lächeln um die köstlich geschwungenen

Purpurlippen. Und doch war sie es wieder nicht –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_166.jpg&oldid=- (Version vom 5.2.2024)