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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Todt! Todt!“ jammerte ich, „und Du bist schuld daran! Unser einziger Schutz, unsere einzige Zuflucht!“

Und diesmal war Lotte die Stärkere, die Gefaßte. „Tone, sei ruhig! Tone, gieb mir die Hand, stehe doch auf; – wir sind nicht schutzlos; denke doch nicht gleich das Schlimmste,“ bat sie. Und an mir vorüber beugte sich ihr warmes junges Antlitz auf die kleine welke Hand der Todten. „Vergieb mir, Großmama!“ – Und während ich wie zerschmettert liegen blieb vor dem Bette, eilte sie, sich anzukleiden. Im Nebenzimmer hörte ich, wie sie die Aufwartefrau mit der Trauerbotschaft zu Anita sandte. Es dauerte auch nicht lange, und die kleine schwarze Person war in dem Sterbezimmer.

Lotte und sie richteten mich empor und führten mich in unsere Wohnstube, ich fühlte Kölnisches Wasser an meinen Schläfen und trank bitteren schwarzen Kaffee, den Lotte mir vorhielt, und dazwischen klang wie im Traume ihre Stimme an mein Ohr: „Sorgen Sie, Anita, daß man es sofort schreibt –.“

„Sehr wohl, gnädiges Fräulein! Gnädiges Fräulein brauchen sich um nichts zu kümmern, ich sorge für Alles. Und jetzt werde ich drinnen die Fenster öffnen und die gnädige Frau Großmama so schön, so schön legen und das Zimmer aufräumen und Blumen aus dem Garten holen, und wenn das gnädige Fräulein etwas zur Trauertoilette befehlen – und den Sarg –“

Da richtete ich mich auf. „Sie rühren Frau von Werthern nicht an!“ rief ich.

„Aber Tone, das kannst Du nicht Alles übernehmen,“ beschwichtigte Lotte. Doch schon hatte ich die Thür des Sterbezimmers hinter mir geschlossen. Sie kamen nicht nach, und ich saß da am Bette der alten Frau und dachte weiter nichts, als daß wir den letzten Halt unseres jungen Lebens verloren hatten, ich und Lotte.

Die sanfte Berührung einer Hand, die sich auf meine Schulter legte, ließ mich emporfahren. „Armes Kind!“ sagte die weiche Stimme der Frau Amtsräthin. „Meine gute alte Werthern!“

Und sie strich über die runzelige Wange der Verblichenen, legte ein Leinwandtuch über die todten Augen, fügte die Hände über der Brust zusammen und strich die Falten der Decke glatt.

„Kommen Sie, Tone,“ bat sie dann, „hier will ich die Vorhänge schließen und die Fenster dahinter öffnen. Kommen Sie aus dem dumpfen Zimmer; sie schläft still und friedlich hier –. Ich gehe mit Ihnen in Ihr Schlafstübchen oder in die Küche, dort sind wir allein.“

Ich folgte ihr; wir mußten durch das Wohnzimmer. Lotte saß am Schreibtisch, völlig in Toilette und schrieb; Anita hatte am Fenster Platz genommen und hantirte in schwarzem Krepp und Flor umher. Großer Gott! Ja, es mußte sein! Wohl dem, der so stark ist, die Aeußerlichkeiten nicht zu vergessen in solchen Stunden –. In der Küche sank ich auf den nächsten Stuhl; ich war wie betäubt.

„Ei, Tone, nicht so den Muth verlieren!“ mahnte die kleine gute Frau. „Denken Sie, wie hoch betagt unsere alte Werthern war, es ist gar natürlich, daß sie die Augen schloß –“. Sie verstummte, sie mochte wohl fühlen, es sei kein Trost, was sie sagte.

„Es ist zu viel auf einmal!“ stieß ich hervor, „zu viel! Was soll aus Lotte werden? Ach, Lotte!“

„Der liebe Gott verläßt Niemand, Tone.“

Ach ja, wenn mir der liebe Gott das nur selber sagen wollte, laut und deutlich; aber es blieb Alles stumm auf mein verzweifeltes banges: Was nun?

So saßen wir eine lange Zeit; dann erhob sich Frau Roden. „Ich will nun gehen, Tone,“ flüsterte sie, „und alles Nöthige besorgen, Sarg und Todtenfrau – auch Mittagessen und Wein schicke ich herüber.“ Sie brach plötzlich ab, denn Lotte hatte die Thür geöffnet und schaute herein.

„Ist es Dir recht, Tone, wenn wir das Begräbniß auf deu neunzehnten Juli festsetzen?“ fragte sie. Ich hob den Kopf und dachte nach; wir hatten den Siebenzehnten heute.

„So rasch?“ fragte ich.

„Aber wozu dieses Zögern, Tone? Sag doch selber, der Tischler muß es wissen.“

In der That erschien hinter ihr der Kopf eines Mannes. Frau Roden stand mit der Miene des höchsten Erstaunens dabei.

Ich nickte stumm, und Lotte verschwand.

„Ich bin wohl überflüssig, Tone?“ Die Stimme der alten Dame bebte. „Anita besorgt schon Alles? Das will ja nichts weiter sagen, aber Tonchen, wenn Sie ein Herz brauchen und ein gutes Wort, dann kommen Sie zu uns.“ Sie strich mir mit der Hand über den Scheitel und ging.

Lotte handelte für mich oder – ließ handeln. Es geschah Alles, was in solch traurigem Falle geschehen muß, still und geräuschlos. Und als der Abend kam, flammten die Kerzen aus dem ernsten Grün, mit dem man das letzte Bett der Großmutter umstellt hatte. Inmitten des Zimmers war sie aufgebahrt, und sie ruhte dort so friedlich in dem weißen Gewand, das man ihr angethan, und dem klaren Häubchen um das stille Antlitz. Lotte und ich hatten dort gestanden und sie angeschaut, als Anita uns rief. Nun saßen wir im Wohnzimmer, ohne Licht, und sprachen kein Wort.

Dann fing sie an, umher zu wandern, lautlos, auf dem Rande des Teppichs; ihre dunkle Gestalt glitt vor meinen Blicken hin und wieder, und leise rieselte die Trauerschleppe hinter ihr.

„So sprich doch eine Silbe!“ redete sie mich endlich an.

„Mir ist sehr bange,“ sagte ich.

„Es wird auch wieder anders!“

„Woher hast Du diesen Muth, Lotte? Wir sind schlimmer dran, als die Bettlerin am Wege!“

„Nous verrons!“ sagte sie. „Ich verzweifle nicht so leicht.“

„Die einzige Zuflucht hast Du uns verscherzt –.“

„Es giebt mehr als eine; ich fürchte mich nicht!“ das klang so hell, so siegesgewiß. Ich fragte unwillkürlich noch einmal: „Woher dieser Muth?“ Und als sie schwieg, fuhr ich fort: „Meinetwegen ist es ja nicht; mit vierzig Jahren habe ich eine Stiftsstelle in Berlin, und bis dahin werden die Kräfte ja wohl ausreichen zur Arbeit. Aber Du, Lotte, wie willst Du es anfangen unter fremde Leute zu gehen? Es ist so schwer im Banne der Dienstbarkeit.“

„Ich?“ das klang wie ein belustigter Aufschrei. Sie verstummte aber gleich, und wieder begann sie ihre Wanderung. Zuweilen trat sie an das weit geöffnete Fenster, wie horchend. Vom Schloßthurm schlug es Viertelstunde auf Viertelstunde, endlich elf Uhr. „Komm,“ sagte ich, „laß uns zu Bette gehen, vielleicht erbarmt sich der Schlaf über uns.“

„Nein, ich kann nicht schlafen, noch lange nicht,“ erwiderte sie hastig. „Bleibe bei mir, Tone, ich bitte Dich.“ Ich lehnte den Kopf zurück, und meine Angen hafteten wieder auf dem schmalen Lichtstreif, der sich durch die Thür des Sterbezimmers drängte.

„Ein Todter ist so furchtbar unheimlich im Hause, man meint beständig die bekannten schweren Athemzüge zu hören, ein Aechzen, ein Rascheln; – hörst Du nichts?“ flüsterte Lotte.

„Ja, aber es ist Täuschung.“

„O nein, es kommt ein Wagen, horch! Ich habe mich nicht getäuscht.“ Und sie eilte zum Fenster und bog sich weit hinaus.

Ich hörte im schlanken Trabe einen Wagen vorüber fahren: nach wenig Sekunden war das Rasseln verstummt, er mußte sein Ziel erreicht haben. „Was ist Dir, Lotte?“ fragte ich sie, die noch immer hinausschaute, und ich kam herüber und faßte nach ihrer Hand. Sie antwortete nicht, aber ich fühlte, wie sie zitterte und wie ihr Athem schwer ging. Nach der Richtung ihres Kopfes zu schließen, blickte sie unverwandt zum Schlosse hinüber. Aus dem Zimmer des Prinzen drang matter Lichtschein durch die Vorhänge; nun theilten sich diese, eine Männergestalt erschien auf dem hellen Hintergrunde und das Fenster öffnete sich –. Lotte war unbeweglich wie eine Statue. – Dann ein Ton, wie wenn zwei Hände leicht zusammengeschlagen werden, und die Vorhänge fielen zurück; regungslos hingen die Falten hernieder.

„Tone! Tone!“ flüsterte Lotte und schlang ihren Arm um meinen Hals; „ach, Tone!“ Und dann zog sie mich in das Zimmer hinein, und indem sie mich anf das Sofa drückte, kniete sie vor mir und barg ihr heißes Gesicht in meinen Schoß. „Gräme Dich nicht, sorge Dich nicht, es wird Alles gut!“

Mir fielen plötzlich Frau Roden’s Worte ein: „Ei, wie wird Se. Durchlaucht sich freuen über Lotte’s Freiheit!“ Sollte sie dennoch Recht haben? „Um Gotteswillen, Lotte, woran denkst Du? Lotte, es wäre entsetzlich – auch das noch!“

„Ich weiß nicht, was Dir einfällt!“ erwiderte sie erregt; „frage mich nicht und ängstige Dich nicht. Ich bin nicht zu bedauern; bitte, schweige.“

„Lotte,“ sagte ich und faßte ihre Hand, „ich kann arbeiten, ich werde für Dich sorgen, versprich mir nur – –“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_143.jpg&oldid=- (Version vom 14.6.2020)